Ich warte, bis der Zeiger meiner Uhr im Display genau auf 25 nach 9 springt. Dann halte ich den Videorekorder mit 'Mad Max 17' an und seufze schwer. Alle halbe Jahre wieder kommt der unausweichliche Moment, wenn man mit den harten Fakten des Universitätsdaseins konfrontiert wird. Im Gegensatz zu den anderen Kollegen habe ich es zwar geschafft, die Katastrophe mit allen möglichen Tricks um 26 Tage, 4 Stunden und 45 Minuten hinauszuzögern, aber irgendwann hilft gar nix mehr:
Ich seufze nochmal und gehe hinüber in den Hörsaal B, wo mein Physik-Grundkurs seit 10 Minuten auf mich wartet.

Ich bleibe kurz in der Türe stehen und inhaliere das typische vermiefte Hörsaal-Aroma von verbrauchter Luft, Achselschweiss und Kreidestaub. Mein kritischer Blick schweift über die lärmenden Reihen: alle Tische sind vollzählig besetzt, und weiter oben sitzen sie sogar noch auf den Treppenstufen. Etwa 110 Studenten, grob geschätzt. Ich überschlage rasch, was das an Korrekturaufwand bedeutet und seufze wieder.
Dann gehe ich eiligen Schrittes nach vorne zur Tafel und sage laut:
"Guten Morgen, meine Damen und Herren!"
Der Lärmpegel sinkt um vielleicht 0.5 dB; ein paar StudentInnen mustern kurz gelangweilt mein 'Bryce Canyon'-Sweatshirt, stufen mich rasch als 'nicht gefährlich' ein und ratschen ungeniert weiter.
Ich sage sehr viel leiser:
"...rabarbarrabarbarabar Zwischenprüfung rabarbarrabarbara relevanterStoff rabarbarrabarbara Vordiplom rabarbarrabar Benotung rabarbarrabarba keinSkript rabarbar - rabar Skripten rabarbarrabar Durchfallquote rabarbarr..."

Plötzlich ist es mucksmäuschenstill.

Ich warte ein paar Sekunden und gucke ernst in die grossen runden Erstsemester-Augen der zweiten Reihe (in der ersten Reihe sitzt traditionell niemand; tatsächlich weiss bis heute keiner genau, warum das so ist!). Dann klettere ich stumm auf das ächzende Katheder und mache einen Kopfstand auf dem Tafelschwamm (der zum Glück noch nicht nass ist).
Einhundertzehn Pupillen weiten sich ungläubig; einhundertzehn StudentInnen halten den Atem an. Man kann deutlich das Rauschen der Klimaanlage hören, so still ist es.
Ich spitze die Lippen und pfeife einen leisen 375Hz-Ton. Im selben Augenblick geht die Hälfte der Deckenlampen aus, ein Blitz schlägt mit ohrenbetäubendem Krachen von der Decke in meinen rechten Fuss ein, die Tafeln fallen alle krachend nach unten und der Wasserhahn spritzt quer über die ersten drei Reihen in die Hörerschaft. Dann wird es vollständig dunkel und als das Gekreisch und Geschrei abebbt, hört man erst von links, dann von rechts Doro, die Hausmeisterdogge, hingebungsvoll heulen. Im nächsten Augenblick geht das Licht wieder an und ich bin vom Katheder verschwunden.
Bevor sich die Newcomer noch von ihrem Schreck erholen können, sage ich von der hinteren Türe aus:
"Bis zur nächsten Stunde schreiben Sie einen Kurzaufsatz, der alles, was sie eben gesehen und gehört haben, mit dem physikalischen Grundwissen der gymnasialen Oberstufe detailliert erklärt. Schreiben Sie nicht mehr als 45 Zeilen und verwenden Sie nicht mehr als 65 Formeln für Ihre Herleitung. Das Bestehen dieses Tests ist wesentliche Voraussetzung für die Zulassung zur Vordiplomprüfung. Bis nächste Woche dann."


Später, als ich den grinsenden Hausmeister-Klingonen für ihre tatkräftige Unterstützung ein Bier ausgebe, überlege ich flüchtig, was ich mit den StudentInnen mache, die tatsächlich nächste Woche einen Aufsatz abgeben.
Aber... das kann ich mir auch nächste Woche überlegen. Wie heisst es so schön? Carpe diem academicum...

© Copyright Florian Schiel 1998

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