Der Tatsache, dass Frau Bezelmann in vier Jahren Dienstzeit genau dreimal zu Fuss (!) durch den LEERstuhl dackeln und einen vermissten Mitarbeiter ans Telefon holen musste, allein dieser Tatsache verdanken wir unsere neue Interkom-Anlage. Frau Bezelmann drohte ganz einfach mit fristloser Kündigung, wenn sie nicht ab sofort Durchsagen in jeden Raum des LEERstuhls machen könne. Da eine Kündigung nicht in Frage kommt, weil sie sämtliche Konto- und PIN-Nummern des Chefs auswendig weiss, wurde sofort eine hochmoderne, stromnetzbasierte Durchsprechanlage installiert.
Selbstverständlich profitiert auch meine Wenigkeit von dieser Anschaffung. Als erstes verbinde ich die Audiokarte des Chefrechners (über den ich volle Kontrolle habe; es lebe Bill Gates) mit der Interkom-Zentrale im Sekretariat und kann auf diese Weise von meinem Büro aus mit allen meinen Leidensgenossen kommunizieren. Um den Mitarbeitern die unglaublichen Vorzüge der neuen Anlage anschaulich vor Augen zu führen, schicke ich das übliche korrupte Broadcast-Packet an unseren Token-Ring-Controler, und der macht sich wie üblich in die Hose. Nach nur drei Minuten laufen die ersten Panik-Meldungen ein, weil in PC-Labor und im ganzen ersten Stock nix mehr läuft. Ich schalte mein Headset auf das Interkom und räuspere mich ein paar Male. Es hallt durch den LEERstuhl, als ob ein Gewitter im Anzug wäre.
"Alles mal kurz herhören", sage ich aufmunternd, "wie inzwischen alle mitbekommen haben, ist unser Token-Ring-Netzwerk leider ausgefallen. Die Ferndiagnose hier sagt: 'lost token'; also muss irgendwo im LEERstuhl eine Unterbrechung des Rings stattgefunden haben, und das Token ist höchstwahrscheinlich dabei herausgefallen. Ohne das Token geht natuerlich nix. Daher schauen jetzt alle bitte mal genau nach, ob sich
a) irgendwo eine Unterbrechung finden lässt, und b) ob irgendwo das herausgefallene Token herumliegt. Ein kleiner Tip: Das Token ist blass rosa, nur etwa so gross wie ein Reiskorn und leuchtet im Dunkeln."
Befriedigt höre ich ein paar Sekunden später, wie unten im ersten Stock die Jalousien herunter gelassen werden; die evangelischen Theologen suchen also schon alle brav nach dem Token...
Marianne reisst meine Bürotüre auf:
"Das soll wohl sehr witzig sein, das mit dem Token!" bemerkt sie sarkastisch und stemmt drohend die Fäuste in ihre Wespentaille.
Ich erwidere ruhig, dass ich es aus didaktischen Gründen für sinnvoll halte, wenn die Theologen sich auch mal mit der irdischen Netzwerktechnik auseinandersetzen, und füge hinzu, dass ihr (Marianne) die beiden Zornsfalten über der Nase richtig gut stehen. Marianne zaubert noch eine dritte Zornsfalte hervor und sagt:
"Noch so eine freche Bemerkung und du kannst zwei kostenlose Veilchen im Spiegel bewundern! In zwanzig Sekunden läuft der Token-Ring wieder, oder ich garantiere für nichts!"
Mir fällt gerade noch rechtzeitig ein, dass Marianne seit Neuestem als Hobby Kick-Boxen betreibt (auf Anraten von Frau Bezelmann natürlich!) und verkneife mir eine weitere Bemerkung über die dritte Zornsfalte. Ich boote leise maulend den Controler, während Marianne mir über die Schulter guckt und mit Argusaugen darüber wacht, dass ich nicht 'aus Versehen' dabei noch den Master-Switch kille.
"Ok", sagt sie schliesslich befriedigt und wendet sich endlich zum Gehen, "übrigens, was stinkt hier eigentlich so komisch? Schmort da irgend etwas durch oder ist das dein neues Aftershave?"
Ich ziehe prüfend die Luft durch meine Nüstern ein: tatsächlich ist da eine ungewohnte Duftnote zu bemerken. Irgendwie modrig und leicht süsslich wie ein abgefackeltes Kondom. Ich überprüfe rasch meinen umfangreichen Gerätepark, kann aber nichts Verdächtiges feststellen. Hat es am Ende unseren Profi-Hypochonder, den Kollegen Rinzling, erwischt? Es soll ja schon vorgekommen sein, dass man Beamte erst anlässlich ihrer anstehenden Pensionierung in mumifiziertem Zustand aus den Büros geborgen hat. Ich klopfe also vorsichtig an die staubmilbensicher versiegelte Türe, aber der Kollege Rinzling reagiert sofort auf seine übliche Weise, indem er den Schlüssel von innen herumdreht. Da man kaum davon ausgehen kann, dass ein in Verwesung übergegangener Rinzling noch die Kraft hat, den Schlüssel zu drehen, kann er auch nicht die Quelle des eigentümlichen Geruchs darstellen. Um ganz sicher zu gehen, brülle ich durch die Türe, wie er, Rinzling, sich denn so fühle.
"Grauenhaft!" tönt es dumpf aus dem verrammelten Büro. "Ganz grauenhaft! Gehen Sie von der Türe weg! Sie verbreiten Bakterien und Hausstaub!"
Also alles in Ordnung bei Rinzling. Woher kommt dann dieser süssliche Gestank?
Im Diplomandenzimmer schnüffele ich mich unauffällig an den schwitzenden Studenten vorbei, aber die stinken wie üblich nach billigem Aftershafe, alten Turnschuhen und dem obligatorischen Angstschweiss, der immer ausbricht, wenn ich in Sichtweite komme.
Ich gehe zurück in mein Büro. Hier ist der Geruch tatsächlich am stärksten. Ich teile das Zimmer in Pinkertonsche Planquadrate ein und beginne systematisch jedes Planquadrat olfaktorisch abzuchecken. Gerade als ich unter der DVD-Jukebox stecke, öffnet sich die Türe und Frau Bezelmann kommt trotz hochgefahrener Schutzschilde herein. Dass es Frau Bezelmann ist, kann ich nur an den Schuhen sehen: niemand am LEERstuhl ausser ihr trägt schwarze, angespitzte Stilettos mit polierten Stahlkappen.
"Darf ich höflichst anfragen, vor wem Sie sich da unten verstecken?" fragt sie mit genüsslich knarrender Stimme, und der verdammte Rabe auf ihrer Schulter krächzt höhnisch dazu.
"Ich... äh... mache gerade ein Experiment, bei dem es um die systematische Erfassung der Reaktion naiver Versuchspersonen beim Anblick meines Allerwertesten geht", sage ich wütend und versuche mich aus dem Kabelgewirr unter der Juke-Box zu befreien.
"Sehr interessant" bemerkt Frau Bezelmann sarkastisch. "Vielleicht können Sie trotzdem Ihre anstrengende Versuchsreihe ganz kurz unterbrechen und das hier unterschreiben."
Sie hält mir einen vorgedruckten Wisch und Kugelschreiber unter die Nase. "Was ist das?" frage ich misstrauisch und klaube mir die Spinnweben von der Stirne. Unglaublich, was da für ein Dreck unter der Juke-Box lagert! Aber die Spinnweben stinken nicht nach dem eigentümlichen Geruch. "Das letzte Mal, als Sie eine Unterschrift von mir wollten, war es eine Petition an den Landtag, eine Sondersteuer für Penisträger einzuführen; mit der abstrusen Begründung, damit die Mehrkosten der Pissoirs in den männlichen öffentlichen Toiletten abzudecken." Frau Bezelmann zieht missbilligend die Mundwinkel nach unten. "Diesmal geht es um die Quotelung der Parkplätze in der Tiefgarage!" erklärt sie mit eisiger Stimme. "Wir fordern genau die Hälfte der Parkplätze exklusiv für die weiblichen Angestellten!"
Mit anderen Worten: immer ein freier Parkplatz für Frau Bezelmann, weil es überhaupt nur 30% weibliche Angestellte an der Uni gibt!
Ich überlege einen Augenblick. Dann sage ich:
"Wie wäre es damit: ich unterschreibe Ihre Petition, und Sie helfen mir dafür herauszufinden, wo dieser komische Geruch herkommt."
"Was für ein Geruch?"
"Ja, riechen Sie denn nichts? Da ist doch etwas..."
Frau Bezelmann schnuppert prüfend; ihre Augen blitzen.
"Ok", sagt sie, "unterschreiben Sie!"
Ich unterschreibe gehorsam, und Frau Bezelmann zerrt mich zum Fenster. Als die Flügel aufschwingen, ergiesst sich ein Schwall todbringender Moder in mein Büro. Es stinkt so bestialisch wie ein durchgeschmorter 3COM-Switch, den man aus Versehen an eine 10kV-Drehstromleitung angeschlossen hat. Ich gucke vorsichtig nach unten. Eine riesige, kackbraune Biotonne bäckt breit und fett in der prallen Sonne unter meinem Fenster. Unter MEINEM Fenster!
Frau Bezelmann zieht die Mundwinkel noch etwas weiter nach unten (bei ihr ist das so ungefähr das Äquivalent eines Triumphlächelns) und rauscht aus meinem Zimmer. Der Modergestank nimmt mir den Atem; krampfhaft nach Luft schnappend verrammele ich das Fenster. Wahrscheinlich entsorgt die Cafeteria ihre ganzen ungeniessbaren Essensreste in diese Tonne. Das Zeug riecht ja nicht mal vor dem Essen besonders gut!
Ich klaue mir Rinzlings Ersatz-Sauerstoffgerät und überlege angestrengt. Nachts in die Luft sprengen? Ein kleiner, zeitgesteuerter Brandsatz in den Resten der Nachspeise? Der katholischen Kirche spenden? (Das ist übrigens ein Tip, Leute: Wenn man irgendwas zuverlässig loswerden will, spende man das Ding der katholischen Kirche; die haben noch niemals etwas wieder herausgerückt...). Aber das hat alles keinen Sinn! Spätestens nach einer Woche haben sie eine Ersatztonne beschafft und dann geht das Ganze wieder von vorne los! Nein, in diesem Fall muss ich den Hebel ganz oben ansetzen! Sogenanntes Top-Down-Engineering muss her...
Aus einem unglaublich verstaubten Schrank im Zentral-Archiv besorge ich mir die Pläne unserer Haus-Klimaanlage. Eine Stunde später rufe ich den Leiter der Haustechnik an. Eine verschlafene Stimme meldet sich; immerhin ist es gerade erst zwei Uhr Nachmittags, und normalerweise wagt es niemand, die bayerischen Beamten um diese Zeit bei ihrem Verdauungsschläfchen zu stören. Als er allerdings meinen Namen hört, ist der gute Mann schlagartig hellwach; seit dem kleinen Vorfall mit der 10kV-Drehstromleitung sind immerhin erst knapp vier Monate vergangen. So und so, erkläre ich dem atemlos lauschenden Leiter der Haustechnik. Die Luftumwälzung im Rechnerraum B sei ab-so-lut un-be-frie-di-gend. Wir laufen Gefahr, dass unsere teuersten Geräte Gefahr laufen, den schnellen Hitzetod zu sterben. Skandalös sei das, eine Vergeudung von Steuergeldern und so weiter und so fort...
Dem Leiter der Haustechnik wird schon vom Zuhören ganz heiss; schliesslich unterbricht er meine Ausführungen:
"Sagen Sie bitte nicht", bettelt er verzweifelt, "sagen Sie bloss nicht, Sie brauchen schon wieder eine neue Klimaanlage. Ihre letzte fahrbare Anlage hat unser Budget schon auf Jahre hinaus erschöpft!"
Ich werfe einen stolzen Blick auf die Super-Deluxe-Mobil-Klimatronic in der Ecke meines Büros, die mir die heissen Sommertage versüsst, und versichere dann der Haustechnik, dass dies absolut nicht notwendig sei. Nur ein paar kleine kostenneutrale Umstellungen im Luftstromleitungssystem, eine bessere Verteilung der Kühlluft und schon wäre das Problem gelöst.
"Ich bräuchte lediglich ein paar Ihrer Leute, vielleicht für einen Tag, um die Druckverteiler neu zu justieren..."
Der Leiter der Haustechnik fällt ein Mont Blanc vom Herzen. Erleichtert verspricht er mir alle Unterstützung, die kostenneutral möglich ist.
Zwei Tage später ist ziemlich genau unter meinem Fenster ein neuer Ansaugschacht installiert, der infolge der so dringend notwendigen Umstellungen in der Klimaanlage Frischluft auch in den dritten Stock liefert.
Im dritten Stock hat der Rektor sein Büro. Ich glaube, ich brauche nicht viel mehr zu sagen...
Einen halben Tag nach dem Umbau der Klimaanlage ist die kack-braune Biotonne plötzlich verschwunden. Top-Down-Engineering. Das war ein Tip, Leute! Schreibt ihn euch auf! Nächste Woche erzähle ich euch was über Reversed-Engineering...
© Copyright Florian Schiel 1999
Top Down Engineering
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