"... und er schaut so süss aus mit seinem verstrubbeltenbraunen Haaren und den blauen Augen. Er kann sich kämmen so viel er will, aber immer stehen seine Haare nach oben, wie ein kleiner Lausbub..."
Marianne und Frau Bezelmann hängen wie gebannt an Jennys Lippen und seufzen verzückt. Jenny berichtet gerade ausführlich während der Kaffeepause von ihrem neuesten Freund. Ich blättere derweil in der neuesten Ausgabe von 'Hacker's Havoc' und versuche nicht hinzuhören.
"... und jedes Wochenende zieht er dann los mit seinen ganzen Modellflugzeugen, wie ein kleiner Junge. Ganz ernsthaft wird er dann, und wenn das blöde Ding nicht starten will, kann er stundenlang am Boden knien und daran herumbasteln. Wenn er dann zu mir kommt, hat er noch lauter Grasflecken auf seinen Jeans, wie ein Lausbub. Und dann erzählt er mit strahlenden Augen, dass er heute einen 5-fachen Looping oder irgend so was ähnliches geschafft hat...
das ist SO SÜSS..."
"Ach ja" bemerkt Frau Bezelmann mit glänzenden Augen, "das Kind im Manne eben...", und dann seufzen wieder alle drei verzückt.

"Ich sehe überhaupt nicht ein, was daran so toll sein soll, im Matsch zu knien, um ein lächerliches Modellflugzeug zu starten", bemerke ich kritisch. "Soll er sich doch lieber den Flugsimulator, Version 7.0 besorgen, der startet wenigstens immer..."
Marianne, Jenny und Frau Bezelmann beäugen mich empört.
"SIE können da überhaupt nicht mitreden!" erklärt Frau Bezelmann kategorisch.
"Genau!" bekräftigt Marianne mit ätzender Stimme. "Leisch hat wahrscheinlich noch nie in seinem Leben etwas Kindisches unternommen. Ich wette, er hat auch niemals so richtige Lausbubenstreiche verbrochen, wie er klein war. Daher weiss er auch gar nicht, wie das einer weiblichen Seele ans Herz geht."
"Und ausserdem", setzt Jenny noch eins drauf, "kann ich mir Leisch sowieso nicht als richtiges Kind vorstellen. Er hat sicher schon mit 4 Jahren die Pentagon-Rechner geknackt!"

Beleidigt ziehe ich mich in mein Allerheiligstes zurück und fahre die Schutzschilde hoch.

Am nächsten Vormittag platzt Marianne zornschnaubend in mein Büro. In der rechten Hand hält sie mit einer Kombizange weit von sich gestreckt ein glibberiges rundes Stück Plastikfolie, das täuschend echt wie eine Pfütze Erbrochenes ausschaut und sich auch so anfühlt.
"Das... dieses... das...", keucht sie.
"Das ist gelungen, nicht?" sage ich freundlich.
"Dieses DING lag auf meiner Tastatur!" kreischt Marianne mit 112 dB Lautstärke. "Ich hab' nicht hingesehen und voll HINEINGEFASST! Du... du... Ekel!"
Ich mache den Mund auf, um zu erklären, dass es sich bitteschön nur um kleinen harmlosen Scherz handele, aber ein plötzliches Getöse auf dem Gang lässt mich nicht zu Wort kommen.
Es klingt etwa so, als ob man eine Ladung Silberbesteck in der Waschmaschine rotieren lassen würde - abgesehen davon, dass eine Waschmaschine normalerweise relativ stationär ist, und nicht - wie dieses Geräusch - mit einem Affenzahn den Gang herunter gerast kommt. Im nächsten Moment saust Rex, Jennys Promenadenmischung, an meiner Bürotüre vorbei, sieben leere Blechdosen, die an seinem Schwanz befestigt sind, hinter sich her schleudernd. Doro, die doofe Hausmeisterdogge, ist ihm dicht auf den Fersen und bellt begeistert so laut sie kann. Offensichtlich denkt Doro genau wie ich, dass es sich um einem wirklich tollen Spass handelt. Weit abgeschlagen, mit fast dreieinhalb Sekunden Abstand, kommt Jenny den Gang entlang gekeucht. Als sie Marianne und mich in der Türe stehen sieht, zieht sie schnaufend die Notbremse.
"Ich... du... das...", japst sie, aber da kracht es auch schon gewaltig am Ende des Flures, fast so wie damals, als irgend ein Unbekannter (!) die Lenkung am Traktor der Hausmeister festgeklemmt hatte, und der erste Hilfshausmeister mit 30 Sachen durch die Fensterscheibe der theologischen Bibliothek gerast war. Anscheinend hat Rex infolge seines typischen Linksdralles - das war die Sache mit dem 380-Volt-Kabel; ihr erinnert euch! - die Kurve vor dem Sekretariat nicht mehr geschafft und ist voll in Frau Bezelmanns Kakteensammlung unter dem Flurfenster geschlittert. Doro natürlich immer hinterdrein.
Während Rex, der jetzt mehr wie ein überdimensionales Stachelschwein aussieht, mit Doro und Jenny auf den Fersen weitersprintet, reisst Frau Bezelmann wütend ihre Bürotüre auf, um festzustellen, wer für diesen infernalischen Lärm vor ihrem Büro verantwortlich ist. Drei bis zum Platzen mit konzentrierten Tensiden und Rasierschaum gefüllte Luftballone lösen sich aus ihrer Aufhängung, die auf sinnreiche Weise mit Frau Bezelmanns Türe gekoppelt war, und schweben sanft auf sie herunter. Frau Bezelmann holt gerade tief Luft, um einen ihrer schwefelsäuregesättigten Kommentare loszulassen, als einer der Ballone in dramatischen Kontakt mit einer Haarnadel in ihren Dutt kommt. Es gibt ein Geräusch, das am besten mit "WaaaooouuuppSwosch!" wiedergegeben werden kann, und Frau Bezelmann verwandelt sich schlagartig in ein wandelndes Sahnehäubchen. Der Chef, aus seinem Mittagsschläfchen in der Bibliothek aufgeschreckt, gerät mitten in einen Knallerbsenteppich, den jemand sorgfältig vor der Bibliothek ausgebreitet hat. Vor Schreck hält er sich an Frau Bezelmanns Power-Shredder fest, bei dem wohl aus Versehen (!) der Motor falsch herum angeschlossen ist. Der Power-Shredder reagiert mit einem sehr plötzlichen Auswurf seines gesamten Papierfitzelvorats und gibt dem überraschten Chef in Null-Komma-Nix das Aussehen eines etwas lametta-überladenen Weihnachtsbaums. Der Kollege O. erscheint - wie immer mit einem Reizwäschekatalog in der Hand - auf der Bildfläche und tritt ausgerechnet auf einen der beiden unversehrten Ballone, die noch durch den Gang kullern: "WaaaooouuuppSwosch!" Der Flur verwandelt sich in einen erstklassigen Schaumteppich, auf den die Hausfeuerwehr stolz sein könnte. Unglücklicherweise hat Kollege Rinzling, der wieder einmal an einem seiner eingebildeten Gichtanfälle leidet, versäumt, seinen Krückstock mit einem TÜV-geprüften Anti-Rutsch-Gummikopf zu versehen. Weswegen er beim Verlassen seiner keimfreien Enklave sofort auf dem Schaumteppich vor seinem Büro ausrutscht und mit Armen und Krücken rudernd in den letzten Ballon hineinschlittert. Auch Marianne, die nicht mehr rechtzeitig ausweichen kann, wird mit in die Tiefe gerissen.
Der LEERstuhl bietet in zunehmenden Masse das Bild einer ausgelassenen Schaumparty. Einen ähnlich Eindruck hat wohl auch der Dekan, der gerade zufällig am Ende des Flures mit einer Delegation Hongkong-Chinesen vorbeikommt. Geistesgegenwärtig lenkt er seine Gäste weiter in Richtung evangelischer Theologie, obwohl die sicher lieber zuschauen würden, wie Marianne mit verbissenen Schwimmbewegungen versucht, auf dem rutschigen Schaumteppich an meine Hosenbeine heranzukommen.

Die eskalierende Dynamik der Situation lässt es mir angeraten erscheinen, vorerst von der unmittelbaren Bildfläche zu verschwinden. Ich schnappe mir meine neue kombinierte Dart-Gun mit integriertem Super-Soaker - die mit dem extragrossen 2-Liter-Magazin - und schiesse mir rücksichtslos den Weg bis zum Ausgang frei.

Im sicheren Hafen der Cafete beschliesse ich, erstmal abzuwarten, bis alle kapiert haben, dass es sich doch wirklich nur um ganz harmlose Lausbubenstreiche gehandelt hatte. Was kann ich dafür, wenn an diesem LEERstuhl immer alles überdramatisiert wird?


© Copyright Florian Schiel 1999