Einer der ganz großen Vorteile der modernen Bürotechnik sind die
automatischen Kalenderfunktionen. Kaum jemand ist sich bewußt, wie
einfach es ist, fremde Kalenderdateien zu lesen. Auf diese Weise komme
ich an viele interessante Informationen, wie z.B. daß Frau Bezelmann seit
neuesten an einem Kurs in bolivianischen Dschungelnahkampf teilnimmt. In
Zukunft werde ich strikt einen Sicherheitsabstand von zwei Metern
einhalten!
Beim Kollegen O. ist jeden Donnerstag abends ein nicht weiter
spezifizierter Termin eingetragen. Zuerst vermute ich eine Liebelei mit einer
Studentin dahinter; eine genauere Analyse seiner email der letzten Monate
ergibt jedoch, daß O. sich für einen Volkshochschulkurs 'Nähen
von Spitzenunterwäsche' eingeschrieben hat.
Aus dem Kalender des Chefs ersehe ich, daß morgen die Deadline für
die Anträge im neuen EU-Rahmenprogramm ist. EU-Projekte sind für
Uni-Assistenten ungefähr so nützlich wie Knoblauch für Vampire.
Deshalb hacke ich mich kurz in den Abrechnungscomputer der Stadtwerke und
fummele ein wenig an der Kundendatei des Chefs herum. Danach sieht es
tatsächlich so aus, als ob der Chef seit nunmehr exakt neun Monaten seine
Stromrechnung nicht mehr bezahlt hätte. Der Abrechnungscomputer wird
daher, brav seinen eigenen Gesetzen folgend, heute um Mitternacht den Strom
abstellen, und morgen bekommt der Chef dann seinen Wagen nicht aus der Garage,
weil er nur ein elektrisches Garagentor hat. Da der Chef seine Anträge
immer auf den allerletzten Drücker schreibt, sprich am Tag der Abgabe,
haben wir somit eine recht gute Chance, für diesmal verschont zu
bleiben.
Vorausschauend planen! Das sage ich auch immer wieder zu meinen Studenten: man
kann sich unendlich viel Arbeit ersparen, wenn nur etwas vorausschauend
arbeitet!
Um den langweiligen Semesterferienalltag etwas aufzupeppen, vertausche ich noch
alle Rendezvous von Marianne und Jenny in der nächste Woche und verschiebe
alle übrigen Termine um eine Stunde nach hinten. Später kann ich dann
immer noch alles auf die Sommerzeit schieben. Bei der Gelegenheit sehe ich
auch, daß Marianne für morgen das lang ersehnte Ende ihrer
bescheuerten Finite-Elemente-Simulationen eingetragen hat. Seit 4 (in Worten
vier!) Monaten nervt mich Marianne mit ihren CPU-fressenden Monsterprozessen,
die ausgerechnet auf meinem geheiligten DooM-Server laufen müssen. Sie hat
mir hoch und heilig geschworen, mich an den Eiern aufzuhängen, falls ich
in der Zeit auch nur irgend etwas mit dem Server anstellen
würde.
Mein eigener Kalender klingelt und erinnert mich daran, daß ich dem Chef
versprochen habe, heute noch ein Job-Interview mit einem neuen Kandidaten
für das SCHWAFEL-Projekt zu führen. Wenn man sich's genau
überlegt, war das wohl nicht ganz so schlau vom Chef, denn ein neür
Mitarbeiter bedeutet, ich muß eine Workstation bereitstellen, einen
Account einrichten, eine Mailbox ... kurz: nix als unnötige
Arbeit!
Ich gehe nach vorne ins Sekretariat, wo der Kandidat, ein blasses
Jüngelchen mit prominenten Adamsapfel und unmöglicher Krawatte, unter
den wachsamen Blicken Frau Bezelmanns und Neros bereits vor lauter
Nervosität einen Anzugsknopf nach dem anderen abdreht. Ich führe ihn
in mein Büro und sage, daß ich nur noch ganz kurz ein Fax abholen
müsse. Dann gehe ich hinüber in den Rechnerraum und aktiviere die
Webcam in meinem Büro, so daß ich ihn ungestört beobachten
kann. Erst mal lasse ich ihn noch drei Minuten im eigenen Saft schmoren; dann
initiiere ich Test No. 19: Ich leite den Kernel des Servers bei voller
Lautstärke auf die Audiokarte. Das akustische Resultat liegt irgendwo in
der Mitte zwischen einem Alarmstart des Space Shuttle und der letzten Berliner
Love Parade komprimiert auf 10 Minuten.
Der Kandidat hopst 20 Zentimeter in die Höhe und verstreut dabei
seine ganzen Bewerbungsunterlagen auf dem Boden. Ein paar Sekunden lang starrt
er mit seinen hervortretenden Augen auf den Server, dann macht er einen
großen Schritt hinter meinen Schreibtisch und guckt vorsichtig aufs
Display. 'SEVERE SERVER PANIC' blinkt es mit großen Buchstaben quer
über die Console. 'SOFORT NETZSTECKER ZIEHEN!'
Der Lärm ist wirklich ohrenzerberstend; sogar hier im Rechnerraum kann ich
ihn noch mühelos hören. Der Kandidat zaudert ein paar Sekunden, geht
zur Türe und guckt auf den Gang; aber da ist auch niemand.
Schließlich gibt er sich einen Ruck und zieht tatsächlich den
Netzstecker des Servers (oder das, was er dafür hält!). Der
infernalische Lärm bricht sofort ab, geht aber übergangslos in das
nervenzerfetzende Heulen der verdammten Seelen aus 'Insel der
Würger-Zombies III' über. Gleichzeitig beginnen dicke rote
Tropfen langsam über die X-Console des Servers zu laufen. Das Heulen
blendet langsam über in ein grauenhaftes Röcheln, das ich vor ein
paar Monaten im Büro des Kollegen Rinzling aufgenommen habe, als dieser
sich einbildete, an finalem Staubmilben-Asthma zu leiden. Das Röcheln
erstirbt langsam, während das Display immer dunkler wird und
schließlich erlischt.
Der Kandidat ist völlig mit den Nerven fertig. Der Schweiß
plätschert in wahren Bächen von seiner Stirne, mit der Linken zerrt
er krampfhaft an seiner unmöglichen Krawatte, mit der Rechten hält er
immer noch das Netzkabel des Servers umklammert.
In diesem Moment stürmt Marianne wutschnaubend in mein Büro, weil sie
natürlich mitbekommen hat, daß alle ihre gehätschelten Prozesse
inzwischen gewaltsam gekillt wurden. Da der Kandidat der einzige in meinem
Büro ist und immer noch das Netzkabel in der Hand hält, hat sie
keinerlei Probleme den vermeintlichen Übertäter zu lokalisieren, und
geht mit ihren lila lackierten Fingernägeln auf ihn los. Ich rase
hinüber in mein Büro und es gelingt mir tatsächlich, das
blutleere Bürschchen noch weitgehend intakt Mariannes Klauen zu
entreißen. Wir flüchten uns in die Bibliothek und schließen
die Türe hinter uns ab.
"Um Gottes Willen, Mann!" rufe ich laut, um das wütende Gehämmere
Mariannes an der Bibliothekstüre zu übertönen, "Was haben Sie
bloß mit Marianne angestellt?! Sind Sie ihr etwa ...
äh ... etwas zu nahe getreten?!"
Der Kandidat betupft mit den Resten seiner zerfetzten Bewerbungsunterlagen
seine aufgeplatzte Lippe und stottert unzusammenhängendes Zeug über
'Panik' und 'Blutstropfen'.
"Ja, das sehe ich, daß Sie bluten", sage ich, "am besten Sie gehen
mal ganz schnell hinunter in die Veterinärmedizin. Da finden Sie
vielleicht einen Weißkittel, der Sie wieder zusammen flickt. Im
übrigen glaube ich wirklich, Sie sollten sich besser woanders nach
einer Doktorandenstelle umschaün. Marianne hat in diesen Dingen ein
Gedächtnis wie ein Elefant ..."
Clean Kill
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