Dass das Semester sich seinem Ende zuneigt, erkennt man daran, dass der Stapel unkorrigierter Seminararbeiten auf meinem Stack langsam die Dimensionen des Matterhorns annimmt. Irgendeinem unbekannten Naturgesetz zufolge geben die Studenten ihre Arbeiten immer in der allerletzt-möglichen Sekunde ab - dafür dann aber alle innerhalb derselben Woche! Selbst die Androhung drakonischer Strafen wie Punkteabzug, Sperren des Email-Accounts oder Putzen des Kühlschranks helfen da gar nichts. Ich hab's ausprobiert; die Seminararbeiten liegen trotzdem erst in der allerletzten Woche des Semesters auf meinem Schreibtisch!
Auch die Tatsache, dass ich meine Sprechstunde auf Samstags abends von 18:29 bis 19:12 Uhr verlegt habe, ändert daran kaum etwas. Eben klopft es schon wieder, und eine Studentin streckt ihren roten Bürstenhaarschnitt herein.
"Ich... äh... ich wollte... ich würde gerne..."
"Sie wollen in letzter Sekunde Ihre Seminararbeit abgeben",
vervollständige ich resigniert ihr Gestammel. "Legen Sie's bitte zu den anderen."
Ich deute auf meinen Stack, der inzwischen bis fast unter die Decke reicht. Die Studentin guckt mit offenem Mund ehrfürchtig nach oben - wie ein Maulwurf, der zum ersten Mal den Mount Everest erblickt. Dass die meisten der hier gestapelten Arbeiten noch aus dem letzten Jahrtausend stammen, braucht sie ja nicht zu wissen!
"In der Ecke ist eine Trittleiter", füge ich liebenswürdig hinzu.
Sie holt gehorsam die wackelige Trittleiter von Frau Bezelmann, bei der ich über 80% der Schrauben entfernt habe, und schichtet ihren Stapel Papier sorgfältig oben auf. Der Stack schwankt bedrohlich.
"Sie können gar nicht glauben, wieviel mir diese Arbeit bedeutet", sagt sie mit feuchtem Augenaufschlag, nachdem sie, ohne sich die nylonbenetzten Beine gebrochen zu haben, wieder unten ist. "Ich habe noch nie soooo ein interessantes Thema bearbeitet und mir echt Mühe gegeben."
Gleichzeitig klimpert sie mit ihren Mascara-Trägern, dass man die Castagnetten klappern hört.
Ich seufze innerlich. Hat sich immer noch nicht herumgesprochen, dass solche Sätze bei mir automatisch zu Punkteabzug führen? Vielleicht sollte man wirklich mal eine Warnung im Vorlesungsverzeichnis abdrucken...
Kaum ist die Studentin weg, angele ich ihr Pamphlet vom Stapel, um einen entsprechenden Negativ-Vermerk anzubringen, damit ich es später - sollte ich wirklich mal dazu kommen, den ganzen Scheiss zu korrigieren - auch bestimmt nicht vergesse.
"Zen oder die Kunst des Compiler-Compilers" ist der Titel, und ich seufze wieder. Seminararbeiten von analphabetischen Studenten sind schon schlimm genug, aber wenn sie dann auch noch versuchen literarisch zu sein, erreicht man ganz schnell die KG ('Kotz-Grenze'). Ich setze grimmig den Rotstift an, als plötzlich in meinem Grosshirn die Alarmglocken losgehen. Irgendwie kommt mir der Titel doch bekannt vor? Ich gehe nach Altavista und tippe einen beliebigen Satz aus der Seminararbeit ein. Bingo! Der gesamte Text ist wortwörtlich im Internet zu finde - aber von einem anderen Autor!
Fehlen tun nur die Abbildungen; wahrscheinlich war es zu schwer, die nach Word zu transferieren. Ein raffiniertes Luder! "... soooo ein interessantes Thema...", jaja!
Soviel Frechheit muss bestraft werden! Ich hebe drohend den Rotstift und... zögere. Muss es das wirklich? Mir kommt eine viel bessere Idee:
Ich gebe ihr eine glatte '1' und schreibe darunter:
"Erstklassig durchgeführte Recherche; beherrscht moderne Kommunikationsmedien!"
Dann nehme ich den restlichen Stack in Angriff. Von 36 Seminararbeiten finde ich 7 wortwörtlich im Internet; 12 haben zumindest Passagen übernommen (meistens in völlig falschem Kontext!) und der Rest hat sich tatsächlich selber etwas aus der Tastatur gesaugt.
Die sieben vollständigen Plagiate bekommen natürlich alle eine '1', die zwölf halbherzigen eine '3' mit der kritischen Bemerkung "Zu viele überflüssige Details im Text" und der Rest fliegt durch wegen "Ungenügender Recherche!"
Beschwingt verteile ich die üblichen unleserlichen roten Krakel über die Texte, damit es so aussieht, als ob tatsächlich jemand das Zeug gelesen hätte. So schnell war ich noch nie mit der Korrektur fertig. Und da behaupten noch Leute, das Internet sei keine Arbeitsersparnis!
Während mein Stack noch rapide an Höhe verliert, platzt Marianne unangemeldet in mein Allerheiligstes. Wahrscheinlich muss sie ihre geheiligten Simulationsversuche jetzt auch noch am Wochenende überwachen. Marianne bleibt völlig überrascht in der Tür stehen und starrt mich an.
"Huup! Was machst DU am Samstag hier am LEERstuhl! Und... und was tust du da überhaupt? Das schaut ja... das gibt's ja nicht... du scheinst ja wirklich was zu ARBEITEN! Schade, dass ich keine Kamera mit Datumsfunktion dabei habe! Das wäre ein hübsches Beweisfoto für die nächste Weihnachtsfeier geworden..."
"Ich korrigiere Seminararbeiten", unterbreche ich würdevoll Mariannes sarkastisches Geseiere. "Schliesslich hat man als HochschulLEERER gewisse Verpflichtungen..."
Marianne schnappt nach Luft.
"Korrigieren... Verpflichtungen... DU und Verpflichtungen..."
"Übrigens", sage ich, um die Sache abzukürzen, "übrigens ist, glaube ich, vorhin einer deiner SimNet-Prozesse hängengeblieben; auf Server B, wenn ich mich nicht täusche..."
Marianne rast los, um nach ihrem Prozess zu schauen, der jetzt schon zum fünften Mal über drei Wochen lang mit voller Pulle irgendwelche unsinnigen Netzstrukturen simuliert. Komischerweise passiert immer kurz vor Abschluss der Berechnungen etwas mit den Rechnern; daher die nervöse Reaktion Mariannes.
Damit sie nicht gleich wiederkommt, starte ich mein kleines 'Stop-and-Go'-Skript auf dem Server B. 'Stop-and-Go' lädt sich direkt in den Kernel (unter falschem Namen, versteht sich!), so dass es sogar für Mariannes misstrauische Augen praktisch unsichtbar bleibt, und macht in unregelmässigen Abständen ein File Stat auf ein Network Filesystem, das es gar nicht gibt. Natürlich bleibt der Kernel daraufhin sofort stehen, und für den Benutzer schaut es so aus, als ob die Maschine sich ohne ersichtlichen Grund so verhält wie ein Taxi in der Rush Hour auf der 5th Avenue.
(Wer den letzten Absatz auch nach siebenmaligem Lesen immer noch nicht kapiert und sich dann noch wundert, wieso der ortsansässige SysOp sich zuerst kaputt lacht und dann sofort an seinen Linux schmeisst und zu hacken beginnt, der sollte nicht verzweifeln und statt dessen lieber den Betriebsarzt anrufen; der kann es sicher erklären: "Aber sicher, Herr von Oberstorz! Ich verstehe vollkommen! Der Körnel macht ein Feilschtat und ein Stopendgo! Alles kein Grund zur Beunruhigung, Herr von Oberstorz, nicht wahr? Haben wir doch täglich, solche Körnel... Wann könnten Sie denn mal in meine Sprechstunde kommen, Herr von Oberstorz? Vielleicht am besten jetzt? Gleich jetzt...?")
Um an der ganzen Geschichte auch noch ein wenig Spass zu haben, setze ich mich nach der letzten Seminararbeit an den Rechner, um dem Dekan einen wütenden Brief zu schreiben. So ungefähr in dem Stil, es sein ein Skandal, dass die Studenten jetzt schon das Internet für betrügerische Aktivitäten missbrauchen, und dass man dringend sämtliche Seminararbeiten der letzten zehn Jahre daraufhin prüfen möge, ob sie nicht ganz oder teilweise aus den Internet stammten. Meine Kollegen werden mich lieben! Harhar!
Mit Feiereifer mache ich ich ans Werk. Gerade habe ich den ersten Satz formuliert, als schon wieder die Alarmglocken losgehen. Diesmal klingt es allerdings etwas anders; ich kenne den Ton: das ist mein Kleinhirn, das lautstark vor unnötiger Arbeit warnt. Ich gehe nochmal nach Altavista und tippe meinen gerade formulierten Satz als Suchbegriff ein. Bingo! Fast genau das Gleiche hat Herr Anton Fertigbiederer, Gymnasiallehrer zu Oberschwenzingen, in einem offenen Brief an das Kultusministerium geschrieben. Da ging es zwar um seine techno-versuchte Deutsch-Klasse, aber mit ein paar wenigen kosmetischen Änderungen wird daraus ein flammender Brief an den Dekan.
Zehn Minuten später liegt der Brief fix und fertig im Postausgang (der Dekan weigert sich immer noch standhaft, Email zu verwenden, seitdem einmal eine Mail an seinen Steuerberater 'aus Versehen' bei der Bezirksfinanzdirektion gelandet ist!)
Ich liebe das Internet!
Und da jetzt sowieso nix mehr zu tun bleibt, schreibe ich mir noch Überstunden bis Mitternacht auf und gehe nach Hause.
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