Die galoppierende Vergreisung unserer Gesellschaft stellt nicht nur Gerhard, Angela und Kohorten vor immer neue Probleme. Auch an der Uni hat man seine liebe Not damit. Nicht etwa weil die Studenten inzwischen solange studieren, dass sie bereits vergreisen (obwohl das sicher auch lustig waere), sondern weil immer mehr Senioren nach Erreichen der Fruehrente ploetzlich entdecken, dass sie irgendwann mal in grauer Vorzeit auch so etwas aehnliches wie ein Abitur erworben und daher Anspruch auf einen Seniorenstudienplatz haben. (Meiner bescheidenen Meinung nach sollte das Abi ein Verfallsdatum haben wie der neue Fuehrerschein, aber auf mich hoert ja sowieso niemand.)

Bloederweise hat irgendein Bastard-Fan jenseits der Halbwertszeit (man moechte es nicht glauben, aber so etwas gibt es!) in irgendeinem Senioren-Chat ueber meine Einfuehrungsveranstaltung geschwaermt. Und als ich nach den viel zu kurzen Semesterferien verkatert in die erste Stunde wanke, sehe ich zu meinem Erstaunen die erste Bankreihe, die normalerweise IMMER frei bleibt, dicht besetzt mit Kommilitonen des Seniorenstudiums. Edle Brillenglaeser mit minus acht Dioptrien blitzen im grellen Licht der Hoersaallampen; an der Seitenwand reihen sich ein halbes Dutzend funkelnde geriatrische Gehhilfen sowie ein batteriebetriebener
Rollstuhl; auf der ersten Bank stapeln sich Medizinflaeschchen, Tablettenpackungen und Gebissreinigungsgeraetschaften; einer hat sogar ein batteriebetriebenes Inhaliergeraet dabei, das leise vor sich hin roechelt (das Inhaliergeraet, nicht der Rentner!).

Ich gehe langsam nach vorne, hieve mein beeindruckendes, mindestens 1000-seitiges Manuskript aufs Katheder und raeuspere mich bedeutungsvoll. "Aehem ... hrrrm ... hrrrrrrm ..." (Dreimal duerft ihr raten, von wem ich das gelernt habe. Ich habe lange zu Hause vor dem Spiegel geuebt, damit ich das so beeindruckend hinkriege wie der Chef.) Traditionell benutze ich die erste Stunde damit, ein Horrorszenario von Semesterueberblick von Stapel zu lassen, 'nur damit Sie von vorneherein wissen, was auf Sie zukommt'. Normalerweise reduziert sich dann in der zweiten Stunde die Zuhoererschaft auf ein halbes Prozent, und wenn ich ganz grosses Glueck habe, faellt die Veranstaltung wegen mangelnder Teilnahme ganz aus. Nach einem letzten Blick in mein umfangreiches Manuskript - es handelt sich im hinteren Teil um die original russische Gebrauchsanleitung von Frau Bezelmanns Panzerfaust - hole ich tief Luft und sage: "Guten Morgen, meine Damen und Herren. Ich begruesse Sie zur 'Einfuehrung in die kosmologisch-relativistische Tensoroptik'! Wir werden in den naechsten Stunden ..." Ein kosmologisch-relativistischer Hustenanfall aus der ersten Reihe nimmt mir den Wind aus den Segeln. Der Kommilitone mit dem Inhaliergeraet hat offensichtlich vor Aufregung vergessen zu inhalieren. Seine bronchialen Eruptionen wuerden jeder mittelalterlichen Schwindsucht-Anstalt zur Ehre gereichen. Ein ehrfurchtsvolles Raunen geht durchs Auditorium, waehrend ich vorsichtshalber per Handy einen Notarzt anfordere. Als wir noch auf ein Nachlassen des respiratorischen Krampfs warten, ertoent am anderen Ende der ersten Reihe eine gellende Keifstimme: "Haeh?! Was sagt er, Gerhard?! Was hat der Professor gesagt?! Wieso redet er nicht mehr, haeh?!" Ein winziges Maennlein mit weisshaarig umkraenzten Glanzschaedel, einen weissen Schal zweimal um den Hals gewunden, bemueht sich ueber den hohen Hoersaaltisch zu spaehen. Sein Nachbar, der mindestens 25 Jahre juenger und trotzdem schon im Rentenalter ist, versucht ihn mit leiser Stimme zu beruhigen: "Du musst dein Hoergeraet einschalten, Konrad. Und bruell' nicht so laut!" "Haeh?!" "Hoergeraet einschalten!!!" Der winzige Rentner fummelt hinter seinem Ohr herum, und ein leises, aber penetrantes Dauerpiepsen erfuellt ploetzlich den ganzen Hoersaal. "Ich glaube, Ihr Hoergeraet hat eine Rueckkoppelung", sage ich. "Haeh?! Was sagt er, Gerhard?!" Ich gehe hinueber und wiederhole: "Ihr Hoergeraet ist falsch eingestellt! Es hat eine Rueckkoppelung! Sie muessen ..." "Haeh?! Was sagen Sie?! Reden Sie doch deutlicher! Sind Sie der Professor?! Ein Professor muss doch deutlich sprechen, sonst versteht man nicht, was, Gerhard?!" Im hinteren Bereich des Hoersaals ertoent muehsam unterdruecktes Gekicher. Ich muss der Sache ein Ende machen, sonst leidet am Ende noch mein Ruf als strenger Dozent. "Ihr Hoergeraet quietscht, weil es falsch eingestellt ist!!! Geben Sie mal her!!!" bruelle ich, so laut ich kann. "Haeh?! Sie brauchen nicht so laut zu pfeifen! Mein Hoergeraet funktioniert ausgezeichnet!" Die Studenten bruellen vor Lachen. Mittels Zeichensprache bringe ich den Rentner endlich dazu, mir sein Hoergeraet auszuhaendigen. Ich tue so, als ob ich an den winzigen Einstellraedchen herumschrauben wuerde und nehme unauffaellig die Batterien heraus. "So, probieren Sie jetzt mal ... besser nicht wahr?" "Haeh?!" "Viel besser, nicht wahr!!!" bruelle ich. Der winzige Rentner bestaetigt begeistert, umstaendlich und lautstark, dass er tatsaechlich auf einmal viel besser hoere. Dann wiederholt er das Ganze noch zweimal fuer seinen 'jungen Freund Gerhard'. Inzwischen haben Sanitaeter den kosmischen Hustenanfall abgeholt, aber bevor ich den verlorenen Faden wieder aufnehmen kann, bricht hinten bei den Stehplaetzen ein Tumult aus. Schrille Schmerzensschreie gellen durch den Hoersaal. Blutende Studenten fluechten den Mittelgang herunter oder ducken sich hinter die letzte Stuhlreihe. Im Zentrum des Aufruhrs steht eine tonnenfoermige Rentnerin in blassblauem Bluemchenkleid, massivem Strasssteincollier und grauen Dutt. Sie stuetzt sich schwer auf ihre linke Titan-Kruecke und laesst die rechte wie Conans Keule ueber ihrem Kopf kreisen. "Ich werd' euch ... da hast du's! ...", - ein Student, der nicht schnell genug ausweichen kann, bekommt den mit Eiskrallen bestueckten Gummifuss der Kruecke ueber die Backe gezogen -, "ich werd' euch lehren, mit aelteren Leuten so respektlos umzugehen! Ihr Bengel! Machen einfach keinen Platz! Ruepelhaftes Pack! Verlauste Gammler!" Letzteres bezieht sich vermutlich auf den derzeit wieder aktuellen Langhaarschnitt der maennlichen Studenten. Um dem Gemetzel ein Ende zu setzen, sprinte ich nach hinten und versuche, die renitente Seniorin auf den frei gewordenen Platz der kosmisch-respiratorischen Katastrophe fuehren. "Ruehren Sie mich nicht an!" schnappt sie wuetend. "Wer sind Sie denn? Der Pedell?" Ich erklaere unter dem Gelaechter der Studenten, dass es an unserer Universitaet schon lange keine Pedelle mehr gaebe und dass ich der Dozent der Veranstaltung sei. "Ein Dozent! Hah! Zu meiner Zeit gab es nur richtige Professoren! Aber dafuer sind Sie sowieso viel zu jung ..."

Endlich ist die Ordnung soweit wieder hergestellt, dass ich meine traditionelle Horroruebersicht fortsetzen kann. Leider verliert selbst das schlimmste und mit mathematischen Unmoeglichkeiten gespickte Semesterprogramm seine abschreckende Wirkung, wenn man dauernd und mitten im Satz mit absolut hirnrissigen Fragen und Bemerkungen unterbrochen wird. "Haeh?! Was sagt er, Gerhard?!" "Wieso 'komisch'? Was ist denn daran komisch?" "Er meint 'kosmisch'! Nicht 'komisch'!" "Irgendwo zieht's hier!" "Haeh?! Was sagt er, Gerhard?!" "Was ist denn ein Acksjom? Koennen Sie das mal erklaeren?" " Haeh?! Was sagt er? Warum schreibt er das nicht an die Tafel? Professoren schreiben doch sonst alles an die Tafel ..." "Finden Sie nicht, dass es hier zieht? Ich muss sehr achtgeben wegen meinem Rheuma ..." "Haeh?! Was sagt er, Gerhard?!" Ein Gebiss faellt klappernd zwischen die Stuhlreihen. "Und was hat das mit Spuelmitteln zu tun?" "Hat jemand ein paar Ersatzbatterien dabei?" "Wo ist die naechste Toilette? Mein Katheterbeutel ist voll!" "Kommt der Einstein auch vor?" "Also, ich finde, dass es hier abscheulich zieht! Ein Skandal ist das!" "Wissen Sie, ob es heute in der Mensa ein Diabetiker-Gericht gibt?" "Haeh?! Was sagt er, Gerhard?!"

Nach der ersten Sunde bin ich vollkommen mit den Nerven fertig. Was Generationen von aufsaessigen Studenten nicht geschafft haben, erledigen zwoelf renitenten Senioren im Handumdrehen - und sie merken es nicht einmal! Sofort nach der Veranstaltung rufe ich bei der Hoersaalvergabestelle an. So und so, erlaeutere ich der ueberraschten Sachbearbeiterin. Ob ich denn meine LEERveranstaltungen in den alten Turmhoersaal verlegen koenne? "Weil ... errr ... weil wir ein paar Experimente mit kosmischer Strahlung machen wollen ... und die Strahlung in unserem jetztigen Seminarsaal ist zu schwach ... Sie verstehen ..." Die Sachbearbeiterin versteht nicht, aber das ist auch egal. "Das ist ueberhaupt kein Problem. Den Turmhoersaal will sowieso sonst niemand haben. Ich werde das sofort im Vorlesungsverzeichnis aendern. Ehrlich gesagt, sind Sie der erste Dozent, der diesen Hoersaal haben will; alle anderen haben sich immer nur beschwert, weil es darin so zieht und er so weit vom Schuss ist." Das wird sich vermutlich bald aendern, denke ich, waehrend ich erleichtert den Hoerer auf die Gabel werfe und meine Schutzschilde hochfahre. Spaetestens dann, wenn die geriatrische Tsunami auch auch alle anderen Seminare und Vorlesungen ueberschwemmt hat, werden meine lieben Kollegen rasch begreifen, welchen unschaetzbaren Vorteil der alte Turmhoersaal hat: er liegt im siebten Stock und er hat keinen Aufzug!

Copyright Florian Schiel 2005