Eine Weihnachtsgeschichte
von dem verrueckten Michael Herrmann
Es begab sich - wie so ziemlich alle Weihnachtsgeschichten - zu genau dem
Tag, an dem Weihnachten noch ein paar Tage weit entfernt war. Kleine Kinder
schrieben eifrig Wunschzettel, legten sie heimlich aufs Fensterbrett,
verwunderte Nachbarn fanden seltsam adressierte Briefe in ihren Gaerten und
zweifelten an ihrer Identitaet, die etwas groesseren Kinder schickten ihre
Wunschzettel per Modem durch die internationalen Datenautobahnen, um sie
dann 24 Stunden spaeter mit 96% Datenverlust wieder zurueckgeschickt zu
bekommen, und Eltern klingelten verzweifelt die umliegenden Nachbarn aus
ihren Haeusern, um die weggewehten Briefe ihrer Kinder wiederzufinden und
den Nachbarn zu versichern, dass sie WIRKLICH nicht der Weihnachtsmann
seien. Also, in einem Satz, alles war in weihnachtlicher Vorbereitung, sogar
der Wetterbericht kuendigte wie jedes Jahr puenktlich fuer den Heiligen
Abend fruehlingliches Tauwetter an und schob die Schuld hilfesuchend auf die
Atomindustrie. Der Weihnachtsmann verpackte gerade in seiner Wohnung
Weihnachtsgeschenke fuer seine Oma und wurde nur hin und wieder gestoert,
wenn aeltere Herren anriefen und den verdutzten Weihnachtsmann fragten, ob
er sicher der einzige Weihnachtsmann sei. Und abends wurden an den Betten
von Hunderten kleinen und grossen Kindern Weihnachtsgeschichten erzaehlt.
Die kleinen Kinder traeumten dann suess von Weihnachtsmaennern mit
Rentierschlitten, die sich nach geglueckter Kamindurchquerung wieder einmal
vornahmen, im naechsten Jahr die Diaet nun doch konsequenter durchzufuehren
und morgen ganz dringend das rote Weihnachtsmanngewand reinigen zu lassen.
Die groesseren Kinder traeumten dann vom Weihnachtsmann, der mit der
Kettensaege die boesen Weichnachtsmonster vertreibt, und die Erwachsenen
traeumten vom Weihnachtsgeld. Jeden Abend machten sich also Hunderte von
Weihnachtsgeschichten auf, um durch die Kinderzimmer zu wandern und von
Kindern jeder Groesse gehoert zu werden. Jede dieser Geschichten, die eine
etwas groesser und staerker, die andere etwas kleiner und zierlicher,
brachte auch eine kleine Vorgeschichte mit sich. Die Vorgeschichte hatte
immer die Aufgabe, den jungen oder alten Zuhoerer zu fesseln und ihn zur
Hauptgeschichte hinzufuehren. Die Hauptgeschichte erzaehlte dann arrogant
und patzig in grossen und breiten Zuegen sich selbst, waehrend die Vor-
geschichte meistens schuechtern in einer Ecke des Zimmers wartete, bis die
Hauptgeschichte zu ihrem Ende kam. Leider war das wichtigere der beiden
immer die Hauptgeschichte, sodass der Vorgeschichte immer nur eine
unbedeutende Nebenrolle zuteil wurde. Das frustrierte natuerlich die
Vorgeschichte. Und so beschloss die Vorgeschichte, einmal ein ernstes
Woertchen mit der Hauptgeschichte zu reden. Es kam zu einem Streit, dass
die Wortfetzen flogen. Die Hauptgeschichte sagte erbost: "Du willst mich
verlassen? Was faellt Dir denn ein?". Die Vorgeschichte antwortete: "Oh,
eine ganze Menge. Ich muss mir immer haarstraeubende Zufaelligkeiten aus
den Fingern saugen, nur damit Du geschehen kannst! Und ausserdem ist mein
Fingersauger zur Zeit kaputt." Da kaufte ihr die Hauptgeschichte einen
neuen Fingersauger und alles war in Butter. Doch wieder beschwerte sich
die Vorgeschichte: "Was soll denn jetzt wieder dieser Quatsch, ich ersticke
hier beinahe in Butter! Tu sofort diese verdammte Butter weg!" "Na gut",
antwortete die Hauptgeschichte, verkaufte den Fingersauger wieder und prompt
war natuerlich nichts mehr in Butter. Der Streit ging also wieder von vorne
los. Die Vorgeschichte sagte: "Was, DAS HIER soll eine Weihnachtsgeschichte
sein? Da kommt ja gar kein Weihnachtsmann vor!" "Ups, 'tschuldigung, hab
meinen Auftritt vergessen." antwortete der Weihnachtsmann und erschien mit
einem leisen "Plopp" auf der Textflaeche - schliesslich gibt es ja keine
Bildflaeche hier. Der Weihnachtsmann - in der Hand noch ein Paar Wollsocken
fuer seine Oma - sprach: "Nun ihr beiden, was ist denn Euer Problem?" "Ich
habe es satt, Vorgeschichte einer so daemlichen Geschichte wie dieser zu
sein!" sagte die Vorgeschichte. "Tja, und wie kann ich Dir da helfen?"
"Keine Ahnung", sagte die Vorgeschichte. "Ich dachte, Du wuesstest das.
Schliesslich bist Du der Weihnachtsmann!" "Ja, eigentlich hast Du recht, ich
bin der Weihnachtsmann - obwohl... gestern hat da einer bei mir geklingelt
und steif und fest behauptet, er waere der Weihnachtsmann. Er hatte auch
einen Schlitten dabei, auf dem lauter alte Maenner sassen. Er sagte, das
waere sein Rentner-Schlitten. Ich glaube, er hat da was falsch verstanden.
Er sagte auch, er tue sich lediglich etwas hart, den Schlitten zu ziehen,
besonders bei diesem schneefreien Weihnachten heuer. Also, bis gestern
glaubte ich jedenfalls immer, ich bin der einzige und wahre Weihnachtsmann."
"Hilfe, ein Weihnachtsmann mit Identitaetskrise!" sagte die Vorgeschichte.
Da kam ploetzlich der Weihnachtsbaum mit dem leisem Geklimper aneinander-
schlagender Lamettastreifen angehoppelt, mit brennenden Kerzen, genau der
Weihnachtsbaum, der in dem Stall stand, in dem Jesus vor 2000 Jahren das
Weihnachtsbaumlicht der Welt erblickte, als sich Maria und Josef gerade
gegenseitig ein Parfum und eine Krawatte schenkten und sagten: "Huch, ich
hab ja ganz vergessen, heute kommt doch unser Sohn zur Welt. Lass mal
gucken, ob er schon da ist.", worauf Maria antwortete: "Gute Idee." Und
der Weihnachtsbaum, der sich gerade aufgrund ungeschickten Gehoppels und
mangelnder Hoppelerfahrung mit brennenden Kerzen - so etwas geschieht
naemlich nur in Geschichten, und auch dann nur aeusserst selten - selbst
angezuendet hatte, sprach, waehrend er hektisch versuchte, sich zu
loeschen: "Ach, liebe kleine Vorgeschichte, Du bist doch Teil dieser
Hauptgeschichte, Du kannst Dich doch gar nicht loesen! Au, ist das heiss
hier! Und Du musst immer Teil der Hauptgeschichte bleiben, was soll denn
das, eine Vorgeschichte ohne Hauptgeschichte... Verdammt, hat jemand einen
Feuerloescher?... Hiiiiiilfe, ich breeenne!..." So verbrannte der
historische Weihnachtsbaum fluchend in einer qualmenden Wolke und fuhr
aehnlich wie Jesus in Wolkenform - in diesem Fall schwarz - unter einem
hellen, man kann sagen feurigem Licht, gen Himmel. Zugegeben, der Vergleich
hinkt. Die Vorgeschichte aber erblickte den hinkenden Vergleich und
fragte: "Warum hinkst Du?" Dieser antwortete: "Ganz einfach. Ich bin nicht
der perfekte Vergleich. Deshalb haben sie mich aufgehaengt." "Ach, deshalb
hingst Du!" Der Weihnachtsmann griff nun in das Geschehen ein: "Aehm, hoert
mal zu, dies ist eine Weihnachtsgeschichte, vielleicht sollten wir schoen
langsam zur Hauptgeschichte kommen..." "Au ja!" freute sich die Haupt-
geschichte und begann zu erzaehlen: Es war einmal ein kleines Kind, das
wollte zu Weihnachten unbedingt einen Teddybaer. Und weil es immer noch,
trotz sehr aufgeklaerter Erziehung, an den Weihnachtsmann glaubte, schrieb
es einen Brief an den Weihnachtsmann. Darin bat es foermlich um einen
Teddybaer, Groesse B, Farbe mahagonibraun, Augenfarbe alkoholblau, und
unterschrieb den Brief mit freundlichen Gruessen, Unterschrift Kleines Kind,
bitte buchen Sie das Geld vom Konto meiner Eltern ab, die haben ja genug.
Das kleine Kind verschloss sorgsam den Brief, adressierte ihn an den
Weihnachtsmann, legte ihn abends auf das Fensterbrett, wobei es darauf
achtete, von den Eltern nicht gesehen zu werden, und versuchte anschliessend
bei dem starken Sturm draussen einzuschlafen. Der Brief wurde selbst-
verstaendlich in des Nachbars Garten geweht, wo er am naechsten Tag von
dessen Besitzer gefunden wurde. Die Psychotherapeutin des Nachbarn uebergab
den Brief, nachdem sie lange genug harte Ueberzeugungsarbeit an dem seiner
wahren Identitaet unsicheren Nachbarn geleistet hatte, an den richtigen
Weihnachtsmann, welcher am Heiligen Abend dem Kind den Teddybaer feierlich
ueberreichte. Das Kind strahlte, als es den Weihnachtsmann mit dem Teddybaer
sah und sagte, waehrend es den Weihnachtsmann umarmte und ihm auf die
Schulter klopfte: "Danke, lieber Weihnachtsmann... Hust...hust... Ja, ich
sage meinen Eltern, der Kaminkehrer soll naechstes Jahr kurz vor Weihnachten
kommen, gute Idee... Ja, und selbstverstaendlich werden wir naechstes Jahr
das Kaminfeuer am Heiligen Abend nicht anzuenden." Das Kind war gluecklich
und zufrieden, der Weihnachtsmann hingegen verliess das Haus lieber ueber
den Hintereingang, da sein Hinterteil und sein Bart bereits gefaehrlich
kokelten, und der Running Gag mit dem Nachbarn darf sich ab jetzt eine
Verschnaufspause goennen, denn hier ist die Geschichte zu Ende. Ach ja:
Wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Wenn sie bereits
gestorben sind, tja, ich glaube, dann werden sie wohl nicht mehr leben. Oder?
Nach einer andaechtigen Stille sagte der Weihnachtsmann schliesslich: "Hast
Du bemerkt, liebe Vorgeschichte, Du bist ein Teil der Hauptgeschichte. Es
gibt nicht immer deutliche Grenzen, wo Du endest. Wenn Du gehst, fehlt ein
Teil des Ganzen. Also bleib ein Teil der Hauptgeschichte. So bloed sie auch
sein mag. OK, das haetten wir geklaert. Ich muss gehen. Wo verdammt noch mal
habe ich Omas Wollsocken hingelegt?"