Diese Woche findet am LEERstuhl ein Workshop statt (groan!).
Einer der Teilnehmer stolpert gerade kurzsichtig an meiner Bürotüre vorbei.
"Excuse me!" sagt er höflich.
Ich tue so, als ob ich gerade dabei wäre, das Paradoxon der Quantenmechanik zu lösen, und antworte nicht.
"Sorry to disturb you!" sagt er etwas lauter. Ein ekelhaft hartnäckiger Bursche. Wahrscheinlich Amerikaner.
"Häh?" sage ich überrascht und gucke zuerst unter den Schreibtisch, dann hinter das Display und dann zur Türe.
"Oh", sage ich, "what gibts?"
"I'm sorry to disturb you", wiederholt der Bursche, ein schmächtiges Männlein mit X-Beinen und Hornbrille. "I was looking for the restrooms..."
Ich starre ihn an.
"Und? Ich meine: And?"
Der Workshop-Teilnehmer windet sich vor Peinlichkeit. Bekanntlich haben Amerikaner erhebliche Hemmschwellen, was ihre naturgegebenen Stoffwechsel-Endprodukte und die damit verbundenen sanitären Einrichtungen angeht.
"Well", versucht er es aufs Neue. "I'd like to wash my hands. Don't you have any restrooms on this floor?"
"Rest-Rooms?" frage ich in einem Tonfall, als hätte er ein Space-Shuttle verlangt.
"Um... yes. Restrooms..."
"On the floor?!"
"On THIS floor... of the building, I mean..."
"No. I do not believe so", sage ich kopfschüttelnd.
"Uh... pardon?"
"We do not have any rooms to rest in this building", sage ich mit grauenhaft bayerischem Akzent. "Only offices. But you can rest here if you want to."
Damit deute ich einladend auf meinen alten Besuchersessel. Der Workshopler schaut mich an wie ein Mofa. Ein Mofa am Amazonas. Ein Mofa, dass am Amazonas ein Atom-U-Boot trifft... usw. Ihr wisst, was ich meine. Er schaut links und rechts den Gang hinunter. Kein Mensch zu sehen. Er stellt sich noch ein wenig x-beiniger hin und versucht es nochmal:
"But I... umm... I think you don't... I mean: this is not a rest room here... I'm looking for a... for a..." Plötzlich kommt ihm die Erleuchtung:
"... I'm looking for a zero zero!"
Ich starre ihn an, wie wenn er mir gerade erläutert hätte, die Freiheitsstatue sei im Urlaub am Chiemsee.
"A zero zero", echoe ich skeptisch.
"Exactly", sagt er erleichtert.
"You mean", vergewissere ich mich, "a zero zero like in James Bond zero zero seven?"
"Well..."
"I am quite absolutely sure, that we don't have that here", sage ich kategorisch.
Der Amerikaner läuft rot an. Der akute Blasendruck treibt ihn zu ungeahnten kulturellen Exzessen. Er beugt sich weit in mein Büro und zischt:
"I'm looking for a place to pee. Piss. You understand? Urgent!!!"
"Oh", sage ich verstehend. "Like in a Eimer or something likely? The Hausmeisters on the Erdgeschoss have one, I think..."
Der Ami gibt auf und rennt mit eingeklemmten... hm... Unterleib den Gang hinunter.
Ein Workshop am LEERstuhl heisst nicht nur, dass andauernd die Kaffeemaschine leer ist und sich wildfremde Leute im Rechnerraum verirren, nein, es kann sogar so weit gehen, dass man von MIR verlangt, die Ergebnisse meiner wissenschaftlichen Arbeit zu demonstrieren! Der Chef hat gestern schon so etwas angedeutet:
"Hmm... äh... ja... Leisch... ähm... es wäre doch sehr... hmm... sehr wünschenswert... äh... schön wäre es, wenn... ähm... wenn Sie mal wieder etwas... hmm... ja... demonstrieren könnten...?"
Und tatsächlich höre ich so gegen drei, gerade als ich mich in die Cafete verdünnisieren will, den Chef mit einer Gruppe erschöpfter Workshopler den Gang herunterkommen:
"... und... äh... hier wird uns jetzt... Herr... äh... Herr Leisch seine neuesten... hrrrm... neuesten Arbeiten... ähm... demonstrieren..."
Wohl oder übel muss ich das Spielchen mitmachen. Ich fletsche mein Gebiss zu meinem freundlichsten Begrüssungsgrinsen, und nach den einleitenden Worten des Chefs, die die Besucher nun endgültig in heillose Verwirrung stürzen, weil der Chef keine Ahnung hat, was ich demonstrieren werde, beginne ich professionell mit meiner Demonstration:
(Anm.: Das folgende ist für Leute, die noch nie an einer deutschen Universität gearbeitet haben, vermutlich nur sehr schwer begreifbar. Zur Erleichterung bringe ich den Text ab hier in der deutschen Synchronfassung)
"Meine Herren (es sind wirklich keine Damen dabei!)! Sie haben sicherlich schon gehört, dass wir uns hier am LEERstuhl seit Jahren mit dem Büroarbeitsplatz der Zukunft beschäftigen."
Alle - auch der Chef - murmeln beifällig und nicken weise. Obwohl noch nie jemand an diesen Institut auch nur im Traum an so etwas gedacht hat.
"Das Ergebnis unserer Forschungen", fahre ich dramatisch fort, "die wir in enger Kooperation mit einer sehr grossen amerikanischen Softwarefirma durchführen, sehen Sie hier vor sich!"
Ich deute demonstrativ auf einen normalen kleinen Konferenztisch, auf dem ich normalerweise meine Videoanlage aufgebaut habe.
"Das ist unser Prototyp MSDesk 0.2, der virtuelle Schreibtisch der Zukunft!"
Die Workshopler beäugen interessiert den Konferenztisch. An dem Tisch ist überhaupt nichts Auffälliges zu sehen, ausser dass ich kurz vorher ein Netzkabel in eines der hohlen Beine gestopft habe.
"Ich werde den MSDesk 0.2 jetzt einschalten und seine Features kurz demonstrieren", sage ich und stecke das freie Ende des Netzkabels in eine Steckdose. Etwas, was Strom braucht, um zu funktionieren, wirkt doch gleich viel realer!
"Bis der MSDesk bootet, kann ich Ihnen kurz das Revolutionäre an diesem Ansatz erläutern. Wie Sie sehen können, haben wir sämtliche Hardwarekomponenten vollständig in die Möbelstruktur integriert. Und nun kommt unser Highlight: sämtliche Aus- und Eingabe-Interaktionen werden durch direkte Einstrahlung in den hinteren Grosshirnlappen, Area 24, 26 und 28 bewerkstelligt. Die dazu notwendigen EE-Emittoren wurden in die vier Hohlprofile des Plattenrahmens eingebaut. Das bedeutet: wir brauchen keinen Schirm zur Ausgabe, weil das erzeugte Bild direkt auf die neuronalen Rezeptoren der Hirnrinde projiziert wird."
Die Besucher schauen mich an wie eine Gruppe Maulwürfe, die zum ersten Mal das Matterhorn erblicken. Einer öffnet den Mund, um etwas zu sagen, aber ich lasse mich nicht gerne unterbrechen.
"Dem Benutzer scheint es daher so", fahre ich unerbittlich fort, "als ob die ganze Tischoberfläche ein einziger riesiger Bildschirm wäre. Die Eingaben an das Gerät erfolgen nur mit den blossen Fingern, eine mechanische Maus ist nicht mehr nötig. Auch die Tastatur wird virtuell im Gehirn simuliert und der Benutzer bewegt nur seine Finger an die Stellen, wo er die Tasten zu sehen scheint. Wir hoffen natürlich in Zukunft auch den Tastsinn des Benutzers entsprechend manipulieren zu können, so dass die Interaktion noch realer wirkt.... Ah, jetzt ist das System gebootet! Wenn Sie sich bitte dicht hinter mir gruppieren möchten, damit Sie sich alle innerhalb der Reichweite der EE-Emittoren befinden... Danke! Sie sehen, dass wir uns vorerst der existierenden Office-Suite unseres Industriepartners bedienen. Sehen Sie her: ich bewege jetzt einfach den Finger auf eine Anwendung und öffne diese mit einfachem Senken des Fingers... Na bitte!"
Natürlich sieht niemand etwas anderes als die graue, etwas schmutzige Oberfläche des Konferenztisches, auf der ich mit meinen Fingern herumfahre. Bevor einer des Besucher seine Verwunderung darüber zum Ausdruck bringen kann, brabbele ich schon wieder munter weiter:
"Natürlich haben wir auch schon begonnen, Versuchsreihen mit verschiedenen Benutzern durchzuführen. Dabei hat sich leider ergeben, dass bei einem erheblichen Anteil der Bevölkerung anscheinend die Kapazitäten der Grosshirnrinde dermassen begrenzt sind, dass die Area 24 die projizierten Bilder nicht aufnehmen kann..."
Der Chef, der bisher mit steigender Verwirrung gelauscht hat, öffnet den Mund, um etwas zu sagen:
"Aber... ähm..."
"Die ersten Auswertungen", fahre ich ernst fort, "scheinen darauf hinzuweisen, dass genau bei diesen Leuten auch der IQ UNTERDURCHSCHNITTLICH NIEDRIG ist..."
Der Chef klappt den Mund rasch wieder zu. Die Workshopler mustern sich verstohlen untereinander. Keiner wagt etwas zu sagen. Ich fuchtele wie wild mit allen 10 Fingern auf der leeren Tischfläche herum.
"Da!" sage ich laut, und alle zucken zusammen. "Haben Sie gesehen?"
Ich drehe mich um und fixiere den Workshopler, der mir am nächsten steht. Er bekommt zwei rote Flecken am Hals und beteuert hastig:
"Wirklich ganz ausserordentlich beeindruckend... äh..." Dann simuliert er einen plötzlichen Asthmaanfall und verschwindet aus meinem Büro.
Der Chef beugt sich über meine Schulter und starrt konzentriert auf die graue Tischfläche. Auf seiner Stirne sehe ich ganz feine Schweissperlen glitzern.
"Können... ähm... können Sie das... hrrrm... das eben nochmal...?"
Die verbliebenen Besucher recken die Hälse und halten den Atem an. Ich fuchtele wieder wild mit allen zehn Fingern.
"Fertig", sage ich. "Natürlich braucht man für die virtuelle Tastatur noch ein wenig Übung... aber das kommt schnell, wenn man sich täglich damit beschäftigt."
"Ah...ja, natürlich", sagt der Chef und richtet sich wieder auf. "Wirklich sehr... äh.... anschaulich... hmm... äh... nicht wahr?"
Letzteres ist an unsere Gäste gerichtet, welche alle bereitwillig beteuern, wie ausserordentlich sie von der Demonstration beeindruckt sind. Einer von ihnen, ein hagerer Ire mit feuerroten Ziegenbart, versteigt sich sogar zu einer kleinen, improvisierten Fantasie über die goldene Zukunft der Bürokommunikation, verhaspelt sich aber nach dem dritten Satz, verstummt und läuft so rot an wie sein Bart. Die anderen starren ihn fassungslos an. Der Chef unterbricht das peinliche Schweigen:
"Nun... ähm... ja... noch Fragen?"
Niemand hat welche.
"Ja... ähm... ich denke... hmm... dass wir uns jetzt einen... einen... Dings... einen Kaffee verdient haben..."
Alle verlassen erleichtert und fluchtartig mein Büro, nicht ohne sich vorher noch einzeln für die grossartige Demo zu bedanken.
Ich rücke den MSDesk 0.2 wieder in die Ecke und baue meine Videoanlage wieder auf.
Später, beim Cocktail-Empfang, höre ich, wie einer der Workshopler dem Vertreter von Microsoft begeistert von MSDesk 0.2 berichtet. Der Microsoft-Sklave lächelt nur unverbindlich. Schliesslich ist auch kaum zu erwarten, dass er über die Vorgänge in der eigenen Forschungsabteilung Bescheid weiss. Der Chef guckt peinlich berührt und versucht mit aller Macht wegzuhören. Bin gespannt, ob er mich nochmal zu einer Demo verdonnert...
© Copyright Florian Schiel 1998
MSDesk 0.2
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