Nach unserem ersten, äusserst feindseligen Zusammentreffen haben Sethimus Typhon, der neue 'Bastard Bureaucrat from Hell', und ich ein vorläufiges Nicht-Angriffs-Abkommen geschlossen. Der Grund hierfür ist weniger ein scheinbares Gleichgewicht der Kräfte, sondern die Tatsache, dass ausser uns beiden niemand an der Uni das Spiel 'Prozesse-Versenken' beherrscht.
Wir sind also gerade in einer aufregenden Schlacht auf der Cray 4 des Leibniz Rechenzentrums, und es steht gerade 1027 zu 1265 (für mich), als ich plötzlich auf dem Gang vor meinem Büro die Stimmen von Marianne und Frau Bezelmann höre.

"Haben Sie den Zettel in der Damentoilette gesehen?"
"Nein!!! Schon wieder einer?!"
"Jawoll!!!" Frau Bezelmann ist empört. "Diesmal steht dort drauf: 'Alle Frauen lügen und ich bin kein Mann! Also ruf mich an!' und dann folgt eine Telefonnummer!"
"Wie geschmacklos!"
"Eben!"
Kurze Pause.
"Aber was meint er oder sie denn damit?" grübelt Marianne vor sich hin.
"Wieso? Das ist doch sonnenklar: eine Les... ich meine, eine homophil veranlagte Frau, die kein Geld für eine Kontaktanzeige hat! Sie sagt doch: 'ich bin kein Mann'."
"Aber davor steht noch 'Alle Frauen lügen'. Wenn sie also eine Lesbe ist, ist sie eine Frau und somit lügt sie. Wenn sie aber lügt, ist sie gar keine Frau sondern ein MANN!"
Betroffenes Schweigen. Dann rückt Frau Bezelmann dem ungewohnten Problem erneut zu Leibe:
"Aber wenn es ein MANN ist, dann lügt er, wenn er sagt 'ich bin kein Mann'..."
"Na und? Nehmen wir mal an, die Aussage 'alle Frauen lügen' ist wahr..."
"Waaaas?!" Frau Bezelmann ist empört.
"Nur mal ANGENOMMEN, meine ich. Dann folgt daraus ja nicht, dass alle Männer die Wahrheit sagen..."
"Wäre ja auch noch schöner!"
"... und somit könnte es auch ein Mann sein, der da lügt", schliesst Marianne triumphierend.
Frau Bezelmann grübelt ein paar Sekunden über den Folgen dieser Interpretation.
"Wenn es aber ein Mann ist und er lügt, dann ist die erste Aussage auch gelogen, oder? Das würde ja bedeuten, dass Frauen immer die Wahrheit sagen...?"
Verlegenes Schweigen.
"Ähm... kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Sie?"
"Nee, also. Alles was recht ist.... Aber, Moment mal: er könnte ja auch im zweiten Teil des Satzes gelogen und im ersten Teil die Wahrheit gesagt haben!"
"Hmm, also nach der klassischischen Logik dürfte dann aber kein 'und' dazwischen stehen..."
"Wenn es ein Mann ist, versteht er wahrscheinlich sowieso nichts von klassischer Logik!" kontert Frau Bezelmann energisch.
"Das stimmt! Männer sind schrecklich unlogische Geschöpfe, nicht wahr? Ich denke da nur an neulich, als der Hausmeister mit seiner Dogge..."
"Und ausserdem muss man das pragmatisch sehen: nur Männer kommen auf solche Ideen!" setzt Frau Bezelmann noch eins drauf.
"Na, ich weiss nicht", zweifelt Marianne. "Moment mal... ich weiss: es könnte eine Lesbe sein, die sich selbst nicht als Frau sieht! Das wäre doch die Lösung! Dann lügt sie nicht, weil sie keine Frau ist, und gleichzeitig ist sie kein Mann..."
"Keine Frau?"
"Naja, nicht so ganz..."
Frau Bezelmann ist nicht überzeugt:
"Ich finde, wir sollten es mit Ockhams Rasiermesser halten und die einfachste Erklärung suchen..."
Marianne ist in der klassischen Philosophiegeschichte nicht so bewandert:
"Was für ein Messer? Was hat denn ein Rasiermesser damit zu tun? Da hängt doch nur ein Zettel!" Ihre Stimme wird etwas schrill.
"Mein liebesss Kind", sagt Frau Bezelmann mit ihrer eisigen Stimme, die sie normalerweise für den Chef und Büroartikelvertreter reserviert hat, "mein liebesss Kind: Ockhams Rasiermesser ist ein methodischer Ansatz, der besagt, dass bei mehreren Erklärungsmodellen stets das einfachste, d.h. dasjenige mit den wenigsten Annahmen, auszuwählen ist."
"Ok", schnappt Marianne beleidigt. Sie mag es nicht, wenn sie belehrt wird.
"Dann also die Lesbe!"
"Wieso denn die Lesbe? Ein Lügner erfordert viel weniger Annahmen!"
"Ein männlicher Lügner?"
"Natürlich!"
"Natürlich. Ein männlicher Lügner, der im ersten Teil des Satzes die Wahrheit sagt, dass nur alle Frauen lügen, und dann im zweiten Teil plötzlich zu lügen anfängt..." Der Sarkasmus trieft aus Mariannes Worten wie Ketchup aus einem zusammengedrückten Hamburger.
"Eine Lesbe dagegen..."
"... die sich nicht als Frau sieht!!" unterbricht Frau Bezelmann spottend.
"Na und? Dafür lügt die Lesbe wenigstens konsistent!!!"

"Äh... um was für... hm... was für Wespen... äh... geht es denn... ja... geht es denn eigentlich?" fragt plötzlich der Chef.
Beide, Marianne und Frau Bezelmann, haben nicht bemerkt, dass sich angelockt von ihrem immer hitziger ablaufenden Schlagabtausch die halbe Mitarbeiterschaft auf dem Gang versammelt hat. Als letzter ist auch der Chef dazugestossen. Auch einige Studentinnen kichern verhalten im Hintergrund. Marianne wird so knallrot wie eine reife Strauchtomate; Frau Bezelmann ist vorübergehend sprachlos (ein ganz seltenes Ereignis!).
"Tja... äh..."
"Also... ja... eigentlich..."
"Es geht um die fundamentale Frage", mische ich mich helfend ein, "ob Wespen immer konsistent lügen."
Der Chef schaut mich erstaunt an und macht schon den Mund auf, aber Frau Bezelmann fährt dazwischen:
"Nein, nein... das heisst schon... aber... äh..."
"Unsinn!" sagt der Kollege O. energisch. "Es geht darum, ob es männliche Wespen überhaupt gibt." Der Kollege O. hat in seiner Jugend Schmetterlinge gesammelt. "Nämlich Wespen, die nur zur Begattung ausgebrütet werden..."
"Quatsch!" unterbricht Marianne. "Es geht nicht um Wespen, sondern... äh... es geht um... um..."
"Um eine Annonce", springt Frau Bezelmann ein..
"Genau! Um eine Annonce!"
"Über Wespen?" wundert sich der Chef.
"Männliche annoncierte Wespen?" sekundiere ich bereitwillig.
"Nein", stöhnt Marianne verzweifelt.
"Natürlich gibt es männliche Wespen", greift der Kollege O. das Thema hartnäckig wieder auf. "Sie werden Drohnen genannt und sterben im allgemeinen kurz nach dem Geschlechtsakt..."
Die Studentinnen kichern.
"Und das... hmm... stand in der... ähm... in der Annonce...??"
Der Chef ist jetzt leicht verwirrt.
"Nein, natürlich nicht" wehrt Marianne ab. "Es geht doch nur darum, dass... dass die Annonce... so... so... so unlogisch ist!"
"Und überhaupt", meldet sich Frau Bezelmann wütend zu Wort, "geht es um eine Annonce nur für Frauen, und das ganze Mannsvolk hier kann das sowieso nicht verstehen!!!"
Mit blitzenden Augengläsern schaut sie sich angriffslustig um. Die meisten Mitarbeiter wittern die typischen Sturmzeichen und verdrücken sich unauffällig in ihre Büros. Marianne stürmt plötzlich los und verschwindet im Treppenhaus; Frau Bezelmann stolziert erhobenen Hauptes an uns vorbei in Richtung Sekretariat. Nur der völlig verwirrte Chef und ich bleiben zurück.
Er schaut mich an und zieht fragend die Augenbrauen. Ich hebe leicht die Schultern und sage:
"Weibliche Logik?"
Der Chef nickt düster und verschwindet zu seinem donnerstäglichen Frühschoppen (Haushaltsausschuss-Sitzung).

Ich mache mir eine Gedanken-Notiz, nächste Woche wieder einen Zettel in die Damentoilette zu hängen.

© Copyright Florian Schiel 1998

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