Ich komme wie üblich gegen 12 Uhr ins Institut, und der Kollege O. lauert bereits im Gang auf mich. Normalerweise schwebt O. in den höheren Sphären der Tensor-Mathematik, und man könnte ihm problemlos einen 286 als Pentium Pro 400 verkaufen, aber heute? Hat er vielleicht mitbekommen, dass ich sein geheiligtes Multi-Prozessor-Array während seiner Abwesenheit für 'DooM-Goes-War' missbraucht habe?
Viel schlimmer: Ich kann es bis hierher riechen: Er will mir von seinem hyper-geilen Urlaub berichten!
Wenn ich etwas nicht ausstehen kann, sind es Leute die statt zu arbeiten auf die Malediven fahren. Und noch schlimmer sind die, die es einem danach wochenlang tagtäglich unter die Nase reiben müssen!
"Hallo, Leisch!" begrüsst der Kollege O. mich strahlend, bevor ich in mein Büro entweichen kann. Sein Gesicht hat die ekelhaft gesunde rotbraune Farbe, die jeden Hautarzt begeistert. Um ganz klar zu machen, wo er gerade herkommt, trägt er ein geschmacklos grellbuntes T-Shirt mit der Aufschrift 'Hawaii Volcanos'. Er lässt sich weltmännisch lässig in meinen Besuchersessel fallen und strahlt selbstzufrieden wie eine Mastgans, die noch nie was von Weihnachten gehört hat.
"Na, wie läuft's denn so?" fragt er leutselig. "Immer schön in Gang gehalten, die alte Tretmühle?"
Ich nicke freundlich grinsend (sic!) und überlege, ob ich ihn nicht gleich direkt fragen soll, um die unvermeidliche Prozedur abzukürzen. Aber das ist gar nicht nötig:
"Übrigens in Hawaii", beginnt er mit in die Ferne entrücktem Blick zu schwärmen. "Also, in Hawaii, da gibt es... blabla... laber...blafasel..."
Ich öffne ein Notepad auf meinem Display und mache mir unauffällig Notizen:
"... und die Brandung auf Big Island: du KANNST es dir nicht VORSTELLEN! SECHS Meter hohe Wellen..."
Der Kollege O. merkt nicht, dass ich alle wichtigen Stationen seiner Hawaii-Neckermann-Traum-Tour mitprotokolliere, einschliesslich aller idiotischer Freizeitaktivitäten.
"... Wellenreiten waren wir natürlich auch. Mit Boogie-Boards. Das sind so kurze breite Bretter, auf die man... haben natürlich prompt einen Sonnenbrand auf den Schultern bekommen. Aber zum Glück nicht so schlimm..."
In kürzester Zeit habe ich die wichtigsten Fakten beieinander und beginne - vor seinen Augen - eine gefälschte Reuter-Nachricht zu schreiben:
KILLER-SEEANEMONEN MORDEN 34 URLAUBER
Hawaii, Big Island (eigener Bericht) - Der Verdacht, dass es sich bei den zahlreichen Todesfällen unter den Besuchern der grössten Insel Hawaiis (wir berichteten) um Auswirkungen der violett-roten Seeanemone handelt, hat sich nunmehr erhärtet. Wie Meeresbiologen der University of Maryland berichten, handelt es sich dabei um einen Schmarotzer, der vermutlich mit japanischen Frachtern aus dem Mündungsgebiet des gelben Flusses nach Hawaii eingeführt wurde und sich vorallem an der Westküste von Big Island (Hawaii) rasant ausbreitet. Die Anemone - übrigens ein Tier und keine Pflanze - sondert zur Selbstverteidigung ein Kontaktgift ab, das sich in der stark sauerstoffhaltigen Brandung zu einem gefährlichen Nervengift umwandelt.
Kontaminierte Schwimmer zeigen zunächst keine auffälligen Symptome ausser einer schwachen Hautrötung, die sich nach wenigen Tagen wieder verliert. Nach zwei bis drei Wochen ist das über die Haut aufgenommene Kontaktgift bis zum Wirbelkanal vorgedrungen, und einzelne Gliedmassen beginnen abzusterben. Erste Anzeichen dafür sind Impotenz und übermässige Nervosität, die auch in hysterischen Anfällen gipfeln kann. Bisher sind 34 tödliche Fälle verursacht durch Killer-Seeanemonen bekannt geworden; die Dunkelziffer liegt vermutlich weit darüber. Wie aus unterrichteten Kreisen der amerikanischen Gesundheitsbehörden verlautbarte, ist eine Behandlung nicht einfach, da es sich nicht um einen Erreger im üblichen Sinne handele.
Ein lokal ansässiger Epidermologe versicherte jedoch, dass sich die Wirkung des Nervengiftes durch die Einnahme hoher Dosen von Koffein und ordinärem Kochsalz neutralisieren lasse. In der offiziellen Stellungnahme des Chamber of Commerce in Hilo, Hawaii heisst es, von einer Gefährdung der Touristen könne keine Rede sein. Ein Sprecher sagte heute morgen bei einer Pressekonferenz vor Journalisten:
"Wir haben die Situation vollkommen unter Kontrolle."
Während O. sich noch exaltiert über 'die sagenhafte tropische Flora und Faune' auslässt, versehe ich den Bericht mit einem falschen Absender von O.s Fluglinie, schreibe darüber:
"An alle Fluggäste in Richtung Hawaii - Zur freundlichen Beachtung"
Dann kopiere ich das Ding in O.s Mailbox; Ankunftszeit: Einen Tag nach seiner Abreise.
Endlich entlässt mich O. aus seinen Klauen - nicht ohne mir vorher noch geschmacklose Bilder von sich und seiner Frau in Hawaii-Hemden und Blumenkränzen aufzudrängen, die er 'zufällig gerade dabeihatte'. Mit Befriedigung sehe ich, dass er und seine Frau auf manchen Bildern tatsächlich stark gerötete Schultern zur Schau stellen. Übrigens hat O.s Gattin natürlich auch lilafarbene Badekleidung an - aber das nur am Rande (und für die Insider unter euch!).
O. zieht also endlich weiter auf seiner Suche nach anderen Opfern, und ich kann mich endlich um meine täglichen Pflichten kümmern.
Das ist vielleicht endlich einmal DIE Gelegenheit, um folgendes mal nachdrücklich klarzustellen:
Die regelmässigen Leser dieser Kolumne haben anscheinend den Eindruck bekommen, ich hätte den ganzen Tag nichts zu tun und würde hier däumchendrehend auf meine Frühpensionierung warten.
Nichts könnte falscher sein als das!!!
Einen LEERstuhl mit 40 Mitarbeitern und 66 Rechnern in einem einigermassen stabilen Chaos zu halten, ist tagtägliche Schwerstarbeit! Sicher, das meiste lässt sich zum Glück automatisieren, wie zum Beispiel das ständige Ändern der Routing-Tabellen oder die Email-Tausch-O-Matic (Patent bereits angemeldet). Aber trotzdem muss ich ja alles überwachen, die Email von 40 Leuten querlesen, die Korrespondenz mit der R.K.f.H. erledigen, aufpassen, dass Frau Bezelmann mir nicht über den Kopf wächst, die Schritte des Chefs überwachen, etc., etc.
Ihr bekommt das bloss nicht so mit, weil ich mich immer nur melde, wenn etwas Aussergewöhnliches sozusagen ausserhalb der stinklangweiligen Routine passiert. So wie eben heute die triumphale Rückkehr des Kollegen O. aus Hawaii.
Ich bin noch mitten in der User-Email, als mir mein kleiner Daemon anzeigt, dass O. sich endlich eingeloggt hat. Zweieinhalb Minuten später ist ein erstickter Schrei zu hören, und gleich darauf entfernen sich hastige Schritte in Richtung Teeküche. Ich gebe ihm noch eine halbe Minute; dann checke ich diskret, was in der Teeküche passiert. O. steht vor der unter Volldampf rülpsenden Kaffeemaschine. In der Linken hält er einen grossen Salzstreuer, mit der Rechten betastet er unauffällig durch die Hose sein primäres Geschlechtsmerkmal. Die erholte Gesichtsfarbe ist einem ungesunden fahl-grün gewichen.
Als ich von Mittagessen zurückkomme, berichtet mir Marianne aufgeregt, dass O. mit einer akuten Koffein-Vergiftung ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.
"Der konnte nicht mal mehr gerade schauen", sagt Marianne kopfschüttelnd.
"Und kein vernünftiges Wort hat er mehr vorgebracht. Dem Notarzt hat er etwas von impotenten Seeanemonen erzählt! Komisch. Er war doch gerade erst in Hawaii, nicht? Wahrscheinlich war er Frau Bezelmanns Power-Kaffee nicht mehr gewohnt."
"Sehr wahrscheinlich", sage ich und lösche vorsichtshalber die Email aus O.s Mailbox.
© Copyright Florian Schiel 1998
Holy Days
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