Ich re-konfiguriere gerade unseren neuen Kopierer, so dass er automatisch jede fortlaufende Kopie um 1% kleiner macht als die vorangegangene, als Frau Bezelmann mich ans Telefon ruft.
"Das Ministerium", zischt sie mit funkelnden Augen. Man sieht ihr deutlich an, dass sie auf einen Skandal in den langweiligen Semesterferien hofft.
Ich nehme ihr den Hörer ab und melde mich neutral mit: "Hallo."
Am anderen Ende ist ein Herr Grossklos, Ministerialreferent. Er fragt höflich, ob es mir möglich sei, noch heute bei ihm im KuMi vorbeizuschauen.
Ich denke kurz an die drei halbfertigen DFG-Gutachten auf meinem Schreibtisch und die fünfzehn Diplomarbeiten, die schon seit 6 Monaten korrigiert sein müssten.
"Im Prinzip ja", sage ich vorsichtig, und worum es sich denn handele.
Man brauche dringend meine Expertise in Bezug auf Betriebssysteme, meint Herr Grossklos und entschuldigt sich gleichzeitig für die Eile.
Ich atme unauffällig auf. Und ich dachte schon, der bayerische Rechnungshof hätte endlich mit 15jähriger Verspätung zugeschlagen, und ich könnte mir einen neuen Job suchen!
"Bin in 20 Minuten bei Ihnen", sage ich und lege auf.
"Man braucht dringend meine Expertise", sage ich hochnäsig auf Frau Bezelmanns fragenden Blick.
"Ha!" sagt sie nur. Und dann noch einmal: "Ha!"
Da es sich um Rechner handelt, binde ich mir die Linux-Pinguin-Kravatte um und trabe los in Richtung Kultusministerium, einem grauen, altehrwürdigen Bau in der Innenstadt.
Auf dem Weg zu Referent Grossklos Büro durch die verschlungenen ministerialen Gewölbe des KuMis kommt mir ein angegrauter älterer Mann in grauen Kittel entgegen. Er schiebt hinkend einen grossen Handkarren mit verstaubten Akten vor sich her und schaut nicht gerade begeistert. Nachdem ich mich gründlich verirrt habe, treffe ich zum dritten Mal auf den Akten-Karren-Schieber und frage ihn schliesslich nach den Büro von Referent Grossklos.
"Joo, da san'S gaaanz foisch da! Da missn'S oa Stockwerk auffi!"
Ich bedanke mich für die Auskunft und frage, was er da eigentlich mache; ob das Recycling Papier sei?
"Ha? Risaiklink hamma no nia ned g'habt daherin! Des san ois Aktn in da Hauspost!" sagt der Bote und erklärt mir unaufgefordert das hausinterne Laufzettel-System, das noch aus der Zeit Karls des Grossen stammen muss.
Kurz darauf finde ich Referent Grossklos Büro und ihn selber, der mich scheints schon sehnlichst erwartet. Das erste, was mir ins Auge springt, ist eine Art Regal mit nur zwei riesigen Fächern. Über dem einen hängt ein graues Emailschild 'Eingang', über dem anderen 'Ausgang'. Referent Grossklos selber ist hager, leicht angegraut und angeglatzt und trägt einen unauffälligen, sehr korrekten dunkelgrauen Anzug, dessen obersten Knopf er dauernd nervös auf- und zumacht. Überhaupt fällt mir auf, dass eigentlich alles an ihm grau ist, sogar seine Augen. Sein CSU-Parteiabzeichen hat er sich nicht angesteckt. Wahrscheinlich ist das hier sowieso redundant...
Nachdem wir auf äusserst unbequemen, natürlich grauen Ledersesseln Platz genommen haben, fragt Grossklos leutselig im Small-Talk-Ton, wie es mir denn hier im Ministerium gefalle.
Ich sage ernsthaft, dass ich besonders von der ausgefeilten Organisationsstruktur der inter-bürokratischen Kommunikationtechnik beeindruckt sei. Grossklos lächelt reserviert, wie jemand, der nicht ganz genau weiss, ob er wirklich gerade ein Kompliment gehört hat.
"Ja, eben", sagt er unsicher und öffnet wieder den obersten Knopf an seinem Jackett. "Warum ich Sie hergebeten..."
Es klopft einmal und die Türe wird ohne weitere Vorwarnung aufgerissen. Der graugewandete Bürobote von vorhin wuchtet einen riesigen Stapel dunkelgrauer Akten in das Fach 'Eingang' und knallt die Türe hinter sich zu.
"Äh... ja... wo war ich?" sagt Grossklos, während seine Augen etwas besorgt zu dem Stapel schweifen. "Also, der Grund, warum ich Ihre Expertise brauche...."
Wieder wird die Türe aufgerissen, diesmal die auf der Stirnseite des Büros.
Eine silbergrauhaarige Frau mit dem Gesicht einer Spitzmaus streckt den Kopf herein:
"Herr Grossklos. Frau Rindfleisch ist söben heruntergekommen..."
Referent Grossklos fährt wie in die Höhe, als hätte er einen elektrischen Aal in der Hose entdeckt.
"Ja?!"
"Sie sollen sich SOFORT im Vorzimmer des Ministers einfinden!"
Die versilberte Spitzmausfrau öffnet schon die Türe zum Gang und der Referent spurtet los. Daran, wie er sich geschickt durch die klobigen Büromöbel zur Tür windet, sieht man, dass er jahrelange Erfahrung mit dem Sprintstart aus sitzender Haltung haben muss.
"Sie entschuldigen bitte! Das Vorzimmer!", ruft er über die Schulter. "Ich bin sofort zurück!"
Nach zehn Minuten ist er immer noch nicht zurück, ich habe mittlererweile alle alten Schinken an der Wand gemustert und die Spalten in der Decke von links nach rechts, und von oben nach unten gezählt und beginne mich zu langweilen. Plötzlich fällt mir auf, dass an diesem Büro etwas nicht stimmt.
Genau: es ist zu ruhig hier. Wie in einem Grab. Kein Lüftergeräusch.
Ich gehe hinter den riesigen anthrazitgrauen Schreibtisch. Nichts. Nicht einmal ein klitzekleiner Laptop. Nur Berge von abgewetzten Aktenordnern und ein graues Telefon ohne Wählscheibe.
Ich nehme den Hörer ab: kein Wählton, dafür meldet sich eine müde Stimme:
"Vermittlung?"
Ich lege wieder auf. In diesem Moment klopft es wieder einmal, und die Türe wird aufgerissen. Schon wieder der Aktenbote. Er wirft mir einen etwas verwunderten Blick zu, wie ich da in Grossklos Stuhl lümmele, sagt aber nichts. Noch ein Paket Akten landet im Eingangsfach. Langsam begreife ich, warum die Fächer so gross sein müssen. Bevor er wieder verschwinden kann, frage ich, ob ihm seine Arbeit denn Spass mache.
"Geht scho", sagt der Bote misstrauisch. Aus dem Tonfall kann ich deutlich heraushören, dass es ihn schon seit zwanzig Jahren ankotzt, Akten herumzukutschieren.
"Wollen Sie nicht mal 'ne halbe Stunde Pause machen? Sie könnten uns was zu Trinken besorgen..."
Ich wedele einladend mit einem Zwanziger. Er schaut mich an wie das sprichwörtliche Mondkalb.
"Naaa! Dös geht ned...", sagt er finster.
"Wie Sie wollen", zucke ich mit den Achseln. "Dann muss ich leider Ihre Vorgesetzten darüber informieren, dass Sie Mitglied bei den Republikanern sind..."
Er reisst Mund und Augen auf. Der Trick funktioniert fast immer: die Rechtsradikalen haben ihre Hauptklientel hauptsächlich in den unteren Rängen der öffentlichen Verwaltung. Das weiss jeder, der sich die Mühe macht, die bayerischen Verfassungsschutzberichte zu lesen (natürlich nicht die Teile, die veröffentlicht werden!).
Nach einigem Hin und Her zieht er los in die Kantine und lässt den Karren auf dem Gang stehen. Während er weg ist, vertausche ich an allen Aktenpaketen die Laufzettel und signiere mit unleserlichen Schnörkeln ein paar davon als 'Erledigt'.
Ich bin gerade fertig, da kommt noch so ein grauhaariger Typ mit einem Karren daher.
"He Sie!" rufe ich im Befehlston. "Ihr Kollege braucht Sie dringend in der Kantine. Sie müssen ihm was 'rauftragen helfen!"
"Aber..."
Ein weiterer Zwanziger erstickt alle weiteren Proteste im Keim. Nachdem er verschwunden ist, mache ich bei seinen Akten dasselbe und verlade zudem noch die Hälfte auf den anderen Karren.
Nach meinen extensiven Erfahrungen mit der öffentlichen Verwaltung, wird das KuMi die nächsten Monate brauchen, um das Chaos wieder zu beseitigen.
Was schliesslich, frage ich, ist so eine Behörde ohne ihre Akten? Der Aktenfluss ist der Blutstrom der Bürokratie! Was macht ein Bürokrat, wenn keine Akten zu bearbeiten sind? Nichts, ausser Kaffee zu trinken und Sekretärinnen zu belästigen...
Grossklos lässt sich ziemlich Zeit. Erst nachdem wir unsere Brotzeit zu dritt längst hinter uns gebracht, und die beiden ahnungslosen Boten sich wieder auf die Socken gemacht haben, taucht er ziemlich abgekämpft wieder auf.
"Äh... ja! Also, worum es eigentlich geht: Man trägt sich derzeit mit dem Gedanken, die Bürotechnik im Ministerium zu modernisieren. Man denkt dabei..." (bei jedem 'man' schaut der Referent kurz, aber salbungsvoll zur Decke) "... auch an ein Rechner-Netz. Man hat mir den Auftrag erteilt, ein Gutachten über die verschiedenen Option auszuarbeiten und... äh... auch eine Bewertung der verschiedenen technischen Möglichkeiten abzugeben..."
Der Referent schaut mich so hilflos an, wie ein indisches Rhinozeros, das zum ersten Mal den Eiffelturm sieht.
"Sie müssen wissen: von der Ausbildung her bin ich eigentlich Paläontologe..."
"Ich verstehe vollkommen", sage ich energisch. "Überhaupt kein Problem. Nehmen Sie sich ein Blatt Papier und schreiben Sie mit:
Auf jeden Fall kommt nur ein Netzwerk mit Microsoft-Rechnern in Betracht.
Schliesslich hat Bill Gates vor kurzem erst den Ministerpräsidenten besucht..."
Grossklos nickt heftig und kritzelt eifrig mit.
"... allerdings empfehle ich Ihnen, nicht die neueste Windows-Version zu nehmen. Verlassen Sie sich lieber auf etwas Bewährtes, wo alle möglichen Fehler seit Jahren ausgemerzt sind: das gute alte DOS!"
Wieder nickt der Referent zustimmend; klingt ja auch einleuchtend - wenn man die übrige Bürotechnik im KuMi berücksichtigt, ist DOS geradezu revolutionär! Der Gedanke an praktisch frei per Netz zugängliche Personal-Unterlagen im KuMi lässt mir das Wasser im Munde zusammenlaufen.
"Und was die Hardware betrifft: Nehmen Sie bloss keine Pentiums! Sie haben doch sicher von den ganzen Bugs im Prozessor gehört, wie? Nein, die guten alten 486 mit maximal 30 MHz, da ist noch Verlass drauf! Und lassen Sie sich nicht von irgendwelchen Händlern beschwatzen: die wollen natürlich mit dem neuesten Schnickschnack ihr Geschäft machen. Wenn Sie keine 486 bekommen, kann ich Ihnen sicher welche vermitteln..."
Ich denke da besonders an das alte Schrottlager von ESCOM; der Schrottverwerter wird vor Freude an die Decke gehen, wenn ich ihm die alten Kästen vergolde!
"... und für das Netzwerk: bestehen Sie unbedingt auf das bewährte ThickWire. Das ganze moderne Zeug kann ja gar nicht funktionieren! Viel zu dünne Kabel für so einen hohen Datendurchsatz! Kein Wunder, dass es dauernd zu Datenverlusten und -stau kommt; das können Sie sich hier auf keinen Fall leisten! Also nur das dicke 'Yellow Cabel' verlangen..."
"Y E L L O W C A B L E", buchstabiert Grossklos. "Äh... gibt es die nicht auch in grau...?"
"Nein", sage ich streng. "Das sind billige Imitate aus Korea. Nur die gelben sind echt!"
"Verstehe", nickt Grossklos.
Mal schauen, wie weit ich gehen kann:
"Dann selbstverständlich monochrome Bildschirme mit grüner Schrift. Viel gesünder als diese modernen Displays mit viel zuviel Farben! Ihre Kollegen werden Ihnen noch dankbar sein, wenn sie in zehn Jahren noch gesunde Augen haben. Das gleiche gilt für die sogenannten Mäuse. Bestellen Sie statt dessen für jeden Arbeitsplatz ein Graphiktableau..."
Referent Grossklos ist begeistert und bedankt sich überschwenglich.
"Ist nur mein Job", wehre ich bescheiden ab. "Und wenn Sie noch ein paar Tips brauchen..."
Auf dem Weg nach draussen treffe ich in allen Gängen Bürokraten, die mit verwirrten Gesichtern ziellos umherirren. Alle haben ein bis drei Aktenordner auf den Armen. Auf der Treppe überholt mich der hinkende Aktenbote, verfolgt von einer Meute grimmig-grauer Büroangestellter, die mit Papierscheren drohen und unheilverheissendes Lynchgeschrei ausstossen. Im Erdgeschoss prügeln sich zwei Ministerialdirigenten um einen hellgrauen Ordner mit der roten Aufschrift 'EILT'.
Wird wirklich Zeit, dass hier modernisiert wird, denke ich befriedigt und gehe nach Hause.
© Copyright Florian Schiel 1998
KuMi
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