Also, ich finde, die Situation wird langsam bedrohlich!

Heute morgen komme ich an der Pforte vorbei, und unsere Pförtnerin, Fräulein Schwengelreiter, hängt wie eine riesige schwarze Fledermaus von der Decke ihres Glaskastens. Nun gut. Yoga soll ja soooo gesund sein! Trotzdem wirkt diese Übung irgendwie tierisch abschreckend, wenn sie gleichzeitig ihre Zungenmuskulatur trainiert.

Vor der Cafeteria spielen der erste Hausmeister, der Hilfshausmeister und der zweite Hausmeistergehilfe mit der saudoofen dänischen Dogge des ersten Hausmeistergehilfen. Das Vieh - es heisst übrigens Doro - ist so dumm, dass normal gesprochene Kommandos wie 'Sitz!' oder 'Platz!' meilenweit ausserhalb seines perzeptiven Universums liegen. Da die Hausmeister sich aber langweilen und nicht auf Kunststückchen während der Frühstückspause verzichten möchten, haben sie dem gehirnamputierten Kalb entsprechende Befehle im Hunde-Jargon beigebracht: 'Wofff!' steht für 'Komm!', 'Wiiiuuuh!' für 'Rollen!' usw.
Im Augenblick versuchen sie der Dogge klarzumachen, was 'Rrrrroooar!' heissen soll, nämlich 'Männchen!': Der zweite Hilfshausmeistergehilfe macht das Männchen vor - ziemlich gut sogar, finde ich - und die anderen beiden 'rrrroooaren' um die Wette. Doro sitzt auf ihrem Schinken, sabbert begeistert, kapiert aber rein überhaupt gar nichts. Schliesslich, um bei dem fantastischen Spiel nicht gänzlich unbeteiligt zu sein, beisst sie den Hilfshausmeister in den rechten Wadel.

Im Sekretariat ist niemand, aber aus dem Zimmer des Chefs höre ich die energische Stimme von Frau Bezelmann:
"Uuuuuund ATTACK!"
Es folgt ein Geräusch so ähnlich wie: Wuschwusch. Pause.
"Uuuuund ATTACK!"
Wischwusch. Pause.
Ich gucke vorsichtig durch den Türspalt. Der Rabe Nero balanciert auf dem Thickwire, das ich vor zwanzig Jahren der Einfachheit halber diagonal unter der Decke verlegt habe, und flattert mit den zerzausten Flügeln. Auf das nächste 'ATTACK!' hin startet er todesmutig, fliegt einen Looping durch den silbernen Reifen, den Frau Bezelmann hochhält, und tötet zielsicher einen der Luftballons, die Frau Bezelmann auf der Rückenlehne des Chef-Sessels festgesteckt hat. Auf dem Teppich liegt eine total zerfetzte aufblasbare Miezekatze. Ich verzichte lieber darauf, Einzelheiten über die Hintergründe dieses Kampftrainings zu erfahren. Immerhin bemerke ich noch, dass auf die Luftballons mit Folienstift ein Gesicht skizziert wurde....
Gestern hat Frau Bezelmann versucht, Nero das Tippen der Institutsadresse auf dem Mac beizubringen. Statt dessen hat er mit seinem gelben Schnabel begeistert 'ERT BLUT DENST MORDOR O IDIOT' gehackt, und wir wissen noch nicht genau, was wir damit anfangen sollen...

Auf dem Weg zurück zu meinem Büro begegnet mir Jenny mit ihrem Hund Rex. Rex ist eine schwarze Promenadenmischung, die keinen Deut intelligenter ist als Doro, aber hundertmal neugieriger. Seitdem er einmal im Rechnerraum ein 380-Volt-Versorgungskabel angenagt hat, leidet er an einem neuro-motorischen Linksdrall, was sich darin äussert, dass er nur noch seitwärts läuft. Da unsere Gänge nicht gerade breit sind, kann das zu Problemen führen - vor allem weil Rex bis heute davon überzeugt ist, er laufe wie ein normaler Hund, und alle anderen würden mutwillig über ihn drüberfallen, wenn er wie eine flohbeladene Fellwalze durch unser Institut stürmt.

Tja, dann haben wir natürlich noch 'Die Katze', von der eigentlich niemand so genau weiss, woher sie eigentlich kommt, und erst recht nicht, wem sie gehört. Da sie keinen Namen hat, heisst sie ganz einfach nur 'Die Katze', wobei alle zum Ausgleich das 'D' gross und den Namen in Anführungszeichen aussprechen. Seitdem Nero ihr beinahe mal die Augen ausgehackt, und Frau Bezelmann sie anschliessend auch noch verprügelt hat ('Die Katze', nicht etwa Nero, der den Streit begonnen hatte! Da sieht man wieder mal, dass Liebe blind macht!), hat sie sich am anderen Ende des LEERstuhls in Yogi Flops Labor einquartiert. Wir wissen bis heute nicht, wie sie es herausgefunden hat, aber in der alten DEC Alpha, die dort noch aktiv ist, befindet sich ein ideales Katzennest gleich über dem Netzteil. Dort wohnt sie jetzt, nachdem sie den Hohlraum mit altem Verpackungsmaterial ausgepolstert hat. Yogi Flop dachte erst, die Winchester laufe unregelmässig, bis er dann gemerkt hat, dass nur manchmal 'Die Katze' schnurrt.

Ich bin kaum in meinem Büro, da läutet unweigerlich das Telefon. Da es intern ist, nehme ich ab. Marianne ist dran:
"Oh, Gott!" keucht sie atemlos, "kannst du ganz schnell mal herüberkommen?"
Ich habe prinzipiell nichts gegen atemlose Frauen, die wollen, dass ich sofort in ihr Büro komme. Die Erfahrung hat mich aber gelehrt, dass eine nähere Spezifizierung des jeweiligen Anlasses hilft, Missverständnisse zu vermeiden.
Was denn los sei, frage ich vorsichtig.
"In meinem Büro ist ein grässliches... ein schwarzes... also, eine riesige haarige Spinne eben... ich trau' mich nicht, näher 'ranzugehen... sie ist unheimlich schnell... und so eklig!... kannst du nicht... ?"
"Was macht sie denn gerade?" frage ich erst mal.
"Was sie macht? Oh, sie sitzt da in der Ecke, wo... wo die ganzen Twisted-Pair-Kabel aus dem Kabelschacht kommen... und macht da irgendetwas... baut ein Netz... was weiss ich... grässlich! Wahrscheinlich wohnt sie in dem Kabelschacht! Vielleicht sind da noch mehr drin! Kannst du nicht 'rüberkommen und... und... äh..."
"Und was?"
"Na, ich weiss nicht... sie erschlagen... oder... oder einfangen und 'rausbringen... Huaah! Jetzt hat sie sich wieder bewegt!"
Ich überlege kurz, ob ich Lust habe, eine riesige, beschäftigte, haarige, eklige, wahnsinnig schnelle Spinne einzufangen.
Eigentlich nicht.
Ich sage:
"Tut mir leid, aber das ist wahrscheinlich nur... äh... B78, der gerade die Kontakte von Segment 13 überprüft."
"Waaas?!"
"Anscheinend hast du meine Mail letzte Woche nicht gelesen, oder? Es handelt sich um eine Wartungsspinne..."
"Waaas?!"
"Natürlich eine genetisch modifizierte Wartungsspinne..."
"Waaas?!"
"Eigentlich ist das nur ein Pilotexperiment zusammen mit den Mikrobiologen. Sie haben uns einen sogenannten Arancho-Maintenance-Squad mit 200 genetisch modifizierten Wolfhaar-Vogelspinnen-Kreuzungen zur Verfügung gestellt...."
"Waaas?!"
"... und wir sollen die kleinen Kerlchen im Feldeinsatz testen. Sie wurden so genetisch modifiziert, dass sie anstatt sinnlose Netze zu weben, Twisted-Pair-Verbindungen prüfen und gegebenenfalls auch reparieren können..."
"Waaas?!"
"... und der Riesenvorteil ist natürlich, dass sie direkt durch die Kabelschächte wandern können. Also lass den kleinen Kerl bitte in Ruhe. B78 macht nur seinen Job, wie wir alle hier."
"Waaas?!"
"Himmel nochmal, Marianne! Kannst du noch was anderes sagen als 'Waaas?!' ?"
"Da... es... er hat sich wieder bewegt..."
"B78?"
"Ja... sie... äh... er sitzt jetzt auf dem 8-Kanal-HUP..."
Manchmal muss man einfach Glück haben!
"Klar", sage ich gelassen, "das gehört zu seinem genetischen Programm: Er muss auch die Funktionsweise der zwischengeschalteten aktiven Komponenten prüfen..."
"Waa... ich meine... äh... heisst das jetzt, ich muss den ganzen Tag solche... solche..."
"Wartungsspinnen?" helfe ich freundlich nach.
"... solche grässlichen haarigen Monster in meinen Büro dulden?!"
"Wartungsspinnen", korrigiere ich sanft, aber bestimmt. "Wartungsspinnen. Es sind geschickte kleine Tierchen, die uns helfen, das Netzwerk am Leben zu erhalten. Du wirst sie lieben. Was dachtest du denn, woher der Name 'Web' kommt? Übrigens könnte es auch A12 oder A13 sein und nicht B78. Die waren heute auch für Segment 13, Zimmer 411, eingeteilt. Wenn du noch zwei siehst..."
"Noch zwei!"
"... dann hast du gleich mal Bekanntschaft mit deinem neuen Arancho-Wartungstrupp gemacht."
Marianne schnappt nach Luft. Dann holt sie tief Luft (sie spielt nebenbei bemerkt Posaune) und brüllt so laut, dass ich sie auch mühelos ohne Telefon hören kann:
"Ich... du... also... wenn dieses haarige Monster oder seine... seine Kollegen in einer halben Stunde noch in meinem Büro sind, garantiere ich für nichts!!!"
Der Hörer knallt auf die Gabel, und zwei Sekunden später kracht eine Türe zu.

Ich überlege einen Moment, wo ich auf die Schnelle ein paar 100 Vogelspinnen herbekommen könnte. Haben die in zoologischen Institut so was vorrätig? Wahrscheinlich nicht. Im Altavista finde ich auch nichts Hilfreiches und im Branchenverzeichnis sowieso nicht. Da sind nur 'Spinnereien' verzeichnet.
Zwanzig Minuten später sehe ich Marianne über den Hof kommen. Auf der linken Schulter trägt sie wie eine Panzerfaust eine riesige Sprühdose mit Insektenvernichtungsmittel. Sie schaut finster zu meinem Fenster hinauf und verschwindet im Eingang.

Ich kann nur hoffen, dass die Spinne in Mariannes Büro noch anderweitig zu tun hatte. Sonst wird sie gleich mal erleben, wie der Vietnam-Krieg aus der Sicht der Vietnamesen aussah.


© Copyright Florian Schiel 1998

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