Man hat mich als Wahlhelfer bei den Hochschulwahlen eingeteilt. Nachdem ich mich 15 Jahre lang erfolgreich durch die Listen gemogelt hatte, muss irgendeinem Deppen im Wahlamt durch einen unglücklichen Zufall mein Name in die Hände gefallen sein.

Nun ja, andererseits habe ich ja ein gewisses Faible für durch und durch sinnlose Tätigkeiten. Schliesslich weiss jeder, dass die Hochschulwahlen vollkommen zwecklos sind, weil nach dem bayerischen Hochschulgesetz niemand in der Uni etwas zu sagen hat - ausser dem KuMi (Kultusminister)!

Am Wahltag finde ich mich ausnahmsweise eine halbe Stunde früher als notwendig im Wahllokal ein und bewundere den Aufwand, den die Uni wegen der Handvoll Wähler veranstalten muss: Vier Wählergruppen mal drei Gremien in 4 Fakultäten macht nach Adam Riese... Moment... 48 Wahlurnen! Deswegen schaut es im Wahllokal aus wie im Lager eines Bestattungsinstituts; Urnen wohin man sieht. Da noch niemand da ist, vertreibe ich mir die Zeit und vertausche die Etiketten der Professoren-Urnen mit denen der Studenten-Urnen. Dann nehme ich mir die Wählerverzeichnisse vor. Da es sich um unnummerierte Computerausdrucke handelt, ist es ein Leichtes, jeweils ein paar der hinteren Seiten auszuwechseln. Ein paar wissenschaftliche Mitarbeiter werden sich freuen zu erfahren, dass sie wieder als Studenten eingeschrieben sind. Das nicht-wissenschaftliche Personal (Frau Bezelmann, Hausmeister-Klingonen, etc. ) hefte ich bei den Professoren ab.
Plötzlich klopft es und ein steinaltes Männlein mit dicker Hornbrille streckt seinen kahlen Kopf herein.
"Ähm... entschuldigen Sie... äh... ist das hier das Wahllokal?"
"Nein", sage ich, " das ist das Urnenlager des Bestattungsinstituts Wurm."
"Urnen-Lager? Äh..."
"Ja, wissen Sie, wir lagern hier die Urnen der verstorbenen Uni-Angestellten, bis auf dem überfüllten Zentralfriedhof ein Platz frei wird. Der KuMi hat uns freundlicherweise diesen Raum zur Verfügung gestellt."
"Aber..."
"Wollen Sie sich vielleicht auch schon eintragen? Die Warteliste ist ziemlich lang..."
Ich mache eine einladende Bewegung hin zum Wählerverzeichnis. Das Männlein fährt erschrocken zurück.
"Nein, nein! Noch nicht. Äh... ich meine, ich bin... ich wollte.... ich war eigentlich nur zum Wählen hier..."
"Ach so", sage ich. "Ich zeige Ihnen gerne unsere Musterkollektion. Eine sehr weise Entscheidung von Ihnen. Die meisten unserer sterblichen Mitbürger sind ja so nachlässig und überlassen die Wahl der richtigen Urne einfach ihren Angehörigen. Sie wissen ja, wie das ist: Jahrelang denkt man nicht dran, und dann wacht man eines morgens auf, und... Zack!... ist es zu spät! Plötzlich ist man tot und kann sich nicht mehr um die richtige Urnenwahl kümmern. Und das tut einem dann natürlich leid. Man sagt sich: 'Hätte ich mich nur rechtzeitig an das Bestattungsinstitut Wurm gewandt!' Aber dann ist es zu spät, und wenn man Pech hat und die Erben knausrig veranlagt sind, verbringt man die nächsten 1000 Jahre in einem koreanischen Plastik-Imitat... Sagen Sie mal, ist Ihnen nicht wohl?"
Ich bekomme keine Antwort mehr. Das kahle Männlein mit der dicken Hornbrille hat fluchtartig das Feld geräumt. Auch gut. Einer weniger, den ich im Wählerverzeichnis suchen muss...

Ich schreibe gerade eine kurze Mitteilung an den Wahlvorstand, dass ich plötzlich an Hämorrhoiden erkrankt bin (Hämorrhoiden haben den Vorteil, dass niemand gerne nachfragt), als der Wahlvorstand - oder vielmehr die Wahlvorständin - schon in der Tür steht.
Mist! Warum müssen manche Leute immer früher als nötig auftauchen? Ich lasse den Zettel unauffällig in einer Professore-Urne verschwinden. Die Wahlvorständin (ist das eigentlich die korrekte Feminin -Form?) ist gleichzeit Frauenbeauftragte der Fakultät 35 und dafür bekannt, dass sie mit akribischer Genauigkeit auf die 'linguistische Gleichstellung' ('linguistische Gleichschaltung') achtet: Studentinnen und Studenten, muss es heissen, Professoren und Professorinnen, Wahlvorstände und Wahlvorständinnen, Finnen und Finninen... hmm...
Sie scheint nicht sehr erbaut, mich in ihrem Wahllokal zu sehen; anscheinend hat sie schon von mir gehört. Ohne mich zu begrüssen fragt sie misstrauisch:
"Was war denn mit dem stellvertretenden Rektor los? Der war ja ganz blass im Gesicht..."
Ah...oh! Mit zweieinhalb Sekunden Verzögerung kapiere ich, dass sie das kahle Männlein mit Hornbrille meint.

SPUREN-VERWISCH-TAKTIK-ON

"Der stellvertretenden Rektor?" frage ich unschuldig. "Wie ich vorhin hereinkam, war hier nur so ein junger Kerl, der irgendetwas von einen Bestattungsinstitut Wurm gefaselt hat. Ich habe ihn natürlich sofort vor die Tür gesetzt. Schliesslich ist das Wahllokal ja noch geschlossen..."
Glücklicherweise schluckt die Wahlvorständin (brauchen wir eigentlich WIRKLICH diese linguistische Gleichschaltung?) die Story, ohne mit den überladenen Wimpern zu zucken. Wenn der stellvertretende Rektor demnächst merkwürdige Fragen über das Bestattungsinstitut Wurm stellt, können wir das Ereignis immer noch unter 'Unbekannt Verzogen' buchen...
Hmm... vielleicht können wir ihn sogar als unzurechnungsfähig einstufen und ich könnte statt ihm ins Rektorat aufrücken; vom Konrektor zum Rektor ist es nur noch ein kleiner Sprung; und später wäre ich dann natürlich im bayerischen Hochschul-Senat auf Lebenszeit; manchmal ergeben sich ja aus solchen Zufällen die ungeahntesten Möglichkeiten...
Die Wahlvorständin reisst mich barsch aus meine Tagträumen zurück ins das muffige Wahllokal mit den 48 Urnen:
"Sie dürfen schon mal die Siegel von den Urnen entfernen, während ich die Wählerverzeichnisse vorbereite!"

Man beachte: Ich darf! Ich, der B.A.f.H. muss mir von einer Frauenbeauftragten sagen lassen, ich dürfe! Die Siegel sind ekelhaft klebrige Plastikaufkleber, genauso penetrant wie österreichische Autobahnvignetten. Nach der sechsten Urne entscheide ich, dass mir diese Tätigkeit entschieden zu bodenständig ist. Glücklicherweise ist das Wahllokal mit einem Telefon ausgestattet. Ich rufe diskret meine eigene Nebenstelle an, schalte auf Tonwahl um und tippe 911 (die Anregung habe ich mir aus USA mitgebracht!). Zehn Minuten später fängt mein Piepser programmgemäss an zu jaulen und ich rufe im Hinausgehen:
"Ein Notfall! Bin gleich wieder da..."

Wie war das mit den Leuten, die nur mal eben zum Zigarettenholen gehen?
Genau...

© Copyright Florian Schiel 1998

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