Der Frühling ist gekommen. Etwas spät zwar, aber immerhin. In dieser Zeit mit El Nino und Ozonloch usw. kann man sich ja sowieso auf gar nix mehr verlassen. Der Frühling ist also endlich da, und was macht man im Frühling?
Genau: Frühjahrsputz. Ich fühle mich schon ganz erdrückt zwischen all den randvollen Massenspeichern. Höchste Zeit mal wieder in den verstaubten Account-Listen aufzuräumen!
Ich schicke eine mail an alle User mit der Aufforderung, sich in angemessener Zeit beim Systemverwalter rückzumelden, weil sonst der Account leider getilgt werden müsse. Dann warte ich sieben Minuten und lösche sämtliche User-Accounts ausser dem des Chefs, Frau Bezelmanns und meinem eigenen. Nachher ziehe ich Bilanz: mit allen User-Daten ca. 878 Megabyte!
Sofort fühle ich mich freier. Nach ein, zwei tiefen erfrischenden Atemzügen nehme ich mir die Daten-Partitionen vor. Ein geniales Skript von mir löscht in jedem File, das nicht mir gehört, jedes 3. Byte heraus. Damit reduziert sich der belegte File-Space um ganze 32 Gigabyte! Jetzt habe ich wenigstens genügend Platz für neue Creatures-II Szenario-Dateien!
Eine regelrechte Frühjahrs-Lösch-Euphorie macht sich in mir breit. Mit zitternden Händen hole ich die letzten Backup-Bänder aus der Jukebox und lösche genussvoll jedes einzelne Bit. Dazu singe ich alte Mond-Beschwörungs-Hymnen der Mojave-Indianer und umtanze das surrende Bandlaufwerk. Eine Stunde später sind 3000 Gigabyte vernichtet und ich habe Muskelkater vom Tanzen.
Mehr, mehr! Ich schnappe mir den tragbaren Löschmagneten und mache die Runde durch die PC-Labors. Jede Diskette, die schutzlos herumliegt, wird gnadenlos blankgebügelt!
Gegen Mittag habe ich Billiarden von Bits für immer ins Daten-Nirwana geschickt. Ich fühle, wie das pulsierende Gefühl der digitalen Vernichtung durch meine fiebernden Adern tickert.
Mehr! Mehr! 'Gebt mir, auf dass ich vernichten kann!' Wer hat das gleich wieder gesagt? Klingt wie von ganz oben... Egal, ich will löschen, löschen, löschen!
Mit Mariannes Nagelfeile gehe ich auf einen Stapel von AOL- und CompuServe-CDs los. Ein paar Minuten später sind Tausende von Megabytes für immer zur ultimativen Unlesbarkeit verdammt! Meine Augen verdrehen sich verzückt bei jedem Kratzer. Marianne, die den Kopf zur Türe hereinstreckt, um nach ihrer Nagelfeile zu fahnden, weicht erschrocken zurück.
Mit witternden Nüstern spüre ich durchs Institut, ob mir noch irgendwelche Datenträger entgangen sind. Aber es ist nichts mehr da - ausser den absolut essentiellen Betriebssystemen und meinen DooM High Score Dateien. Ich überlege einen Augenblick, ob ich hinunter zu den Teilchen-Physikern gehen soll. Da lagern ganze Terabyte von Simulationsdaten. Aber dann kommt mir eine bessere Idee.
Information kann ja auch anders auftreten als in Massenspeichern. Eine Weile lösche ich mit Frau Bezelmanns Tintenkiller genussvoll wichtige Unterschriften aus den letzten Kooperationsverträgen. Dann entdecke ich in der Ecke Frau Bezelmanns Power-Shredder. Ich zerkleinere alles, was mir in die Finger kommt. Mit jedem Blatt, das jaulend zwischen den gefrässigen Kiefern des teuflischen Geräts verschwindet, vergrössert sich der Rauschzustand. Irgendwann gibt der Shredder mit einen letzten verzweifelten Keuchen den Geist auf, und ich falle erschöpft in den nächsten Besuchersessel.
Während sich der Rauch des durchgeschmorten Shredders verzieht, überlege ich fieberhaft, was ich noch löschen könnte. Der Informationsvernichtungsdrang ist ungebrochen. Mein Blick fällt auf den Raben Nero, der mich misstrauisch aus seinem goldenen Käfig beäugt.
Nero! Natürlich! Ich könnte die ganze Bibliothek in Brand setzen, wie einst Kaiser Nero es mit Rom getan hat. Oh, wie kann ich den guten Mann jetzt verstehen! Das wären mehrere Billiarden Bits mit einem Schlag! Andererseits würde mich der Kollege O., der für die Bibliothek zuständig ist, daraufhin sofort umbringen. Ich hätte also nicht viel Zeit, meinen Vernichtungsrausch auszukosten, geschweige denn, ein vernünftiges Gedicht zustande zu bringen.
Um meine vor Lösch-Gier zitternden Hände zu beruhigen, fange ich an, dem Post-Kaktus von Frau Bezelmann die Stacheln auszureissen. Aber das ist absolut unbefriedigend, weil so ein Stachel selbst beim besten Willen höchstens ein Bit Information enthält. Doch dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Löschen = Verschwindenlassen!
Ich begebe mich hinunter in den Biergarten vor der Cafeteria, wo die Studenten nichtsahnend in der Sonne dösen und ihre Habseligkeiten achtlos um sich verstreut haben. In den nächsten drei Stunden verschwinden auf unerklärliche Weise: ein Stück Käsekuchen, dreiunddreissig Sonnenbrillen, sechs Chevignon-Jacken, zwölf Aktenmappen, ein alter Regenmantel, vierundvierzig Armbanduhren, neun verschieden-farbige Kondome, sechzehn Brieftaschen, dreiundvierzig rote Lippenstifte und sechs schwarze und ein blauer, neunzehn Puderdosen, ein Rasierapparat, siebzehn Dosen Cola, eine Jeans und ein schwarzer Spitzen-BH, Cup C.
Völlig erschöpft, aber tief befriedigt nach dieser letzten gigantischen 'Lösch-Aktion' schleppe ich mich nach Hause. Am nächsten Tag machen der Hausmeister, der Hilfshausmeister und der Gehilfe des Hilfshausmeisters eine erstaunliche Entdeckung, als sie ihre vermeintlich sicher abgesperrte Klein-Traktor-Garage inspizieren. Besonders der schwarze Spitzen-BH - dekorativ um die Scheinwerfer des Traktors drapiert - gibt ihnen Rätsel auf.
© Copyright Florian Schiel 1998
Assi cleans up
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