Ich gehe zum Zahnarzt.
Nicht freiwillig! Gezwungenermassen, weil die Krankenkasse droht, mir zukünftig den Zahnersatz zu streichen, wenn ich nicht alle paar Jahre eine Zahnarztkontrolle nachweisen kann.
Eine schreckliche Stunde und drei Plastikplomben später will ich mir von der hässlichen Sprechstundenhilfe den sauer verdienten Stempel abholen. Sie klärt mich genüsslich darüber auf, dass die Regelung schon längst wieder aufgehoben sei und dass ich also völlig umsonst gelitten habe.
Ich sage, dass ich meine Zeitung im Behandlungszimmer habe liegen lassen, und gehe nochmal zurück in die Folterkammer. Dort vertausche ich rasch die Polarität der Speichelabsaugpumpe und schalte auf volle Saugkraft. Der nächste Patient bekommt dann den gesammelten Schleim seiner Leidensgenossen in die Fresse!
Zwar kann der nächste Patient strenggenommen nichts für die Blödheit unseres Gesundheitssystems, aber trotzdem fühle ich mich sofort besser.
Sogar die Schmerzen in meinem malträtierten Eckzahn lassen etwas nach.
Beschwingt gehe ich zurück in Richtung Büro und beschliesse, dass ich mir nach dieser krankenkasslich, also quasi behördlich, bei weiter Auslegung also in gewisser Weise dienstlich angeordneten Tortur eine freien Resttag verdient habe. Ich rufe also mit dem Handy Frau Bezelmann an und sage ihr, dass ich mit unerträglichen Schmerzen auf der Intensiv-Station in der zahnärztlichen Uni-Klinik läge und sie heute besser nicht mehr mit mir rechnen solle. Dann schalte ich das Handy ab und begebe mich in mein Stamm-Cafe in der Leopoldstrasse.
Das Strassen-Cafe liegt an einer stark befahrenen Kreuzung mit komplizierten Einfädelspuren und neunstelliger Ampel. Gegen elf Uhr - kurz nach meinem fünften Espresso - kommt ein Streifenpolizist zu Fuss dahergeschlendert, bleibt nicht weit von mir entfernt stehen und beobachtet den dichten Verkehr. Nach einer Weile überfährt ein dunkelblaues BMW-Cabrio die Ampel bei dunkelgelb und der Polizist pfeift ihn heraus. Der Fahrer - ein typischer Grossstadt-Yuppi mit gelber Krawatte und Mistkäfer-Brille - grinst den Polizisten herablassend an und spielt den grossen Macker. Obwohl heute jeder Depp weiss, dass die Verkehrs-Polente schon lange nicht mehr auf der Strasse kassiert, wedelt er angeberisch mit einem Bündel Hunderter herum und erklärt dem Streifenpolizisten arrogant, dass ihn so ein Strafmandat überhaupt nicht jucke, aber er solle sich gefälligst beeilen. Schliesslich habe er Wichtigeres zu tun, als mit einem Polizisten an der Strassenecke herumzulungern.
Schon allein die Art wie er das Wort 'Polizist' ausspricht, erfüllt meiner Meinung nach schon den Tatbestand der schweren Beamtenbeleidigung, aber der Bulle lässt sich nicht provozieren. Er stellt das Ticket aus, der Yuppi reisst es ihm aus der Hand, knüllt es zusammen und wirft es hinter sich auf den Rücksitz. Dann haut er mit quietschenden Reifen ab.
Der Polizist verzeiht keine Miene, aber man sieht trotzdem, dass er es in Moment bedauert, keine Boden-Boden-Rakete greifbar zu haben. Statt dessen muss er dumm rumzustehen und das hämische Grinsen der Passanten stoisch über sich ergehen lassen. Ich warte, bis sich sein Adrenalinspiegel einigermassen stabilisiert hat, dann sage ich:
"Glauben Sie eigentlich, dass das die richtige Methode ist?"
Der Polizist guckt sich irritiert nach mir um.
"Was... wie?"
"Ob das die richtige Methode ist", wiederhole ich. "Der Affe in dem Cabrio macht das doch bei der nächsten Kreuzung sofort wieder. Der Strafzettel juckt den Schnösel doch gar nicht. Er ärgert sich höchstens, dass seine Sekretärin wieder mal einen Überweiser ausschreiben muss, wo sie doch normalerweise auf seinem Schoss sitzen sollte."
"Naja..." sagt er zögernd.
"Und dass er soviele Pünktchen einheimst, dass es wirklich gefährlich werden könnte", fahre ich unbeirrt fort, "dazu seid ihr einfach nicht Manns genug. Da müsste schon an jeder Ecke ein Schupo stehen, oder? Irgendwo ist doch da ein Fehler im System!"
Der junge Polizist schaut sich unbehaglich um, ob noch jemand meine staatszersetzenden Reden mitbekommen hat. Dann zuckt er resigniert die Schultern.
"Was soll'n mer denn macha", sagt er im schönsten Niederbayerisch. "So san hoit amoi d' Vorschriftn."
"Alles Auslegungssache", erkläre ich. "Wenn Sie mir mal kurz Ihre Jacke und Mütze leihen, dann zeig ich Ihnen mal, was ich meine..."
Wer nun meint, ein bayerischer Schupo mit Münchner Kesselerfahrung überlasse so ganz einfach seine hochheiligen dienstlichen Insignien irgendeinem dahergelaufenen Strassen-Cafe-Sitzer (vielleicht womöglich sogar ein Ausländer!?), der hat sich schwer getäuscht.
"Mögen hätt' ich schon wollen" sagte Karl Valentin, "aber dürfen habe ich mich nicht getraut!"
Erst nach eineinhalb Stunden harter Diskussion ist er bereit, mit einem halben Dutzend Auflagen und sozusagen unter den aufmerksamen Auge des Gesetzes, quasi in experimenteller Weise, seine grüne Jacke und Kappe herzuleihen. Die Pistole rückt er allerdings nicht heraus. Auf gar keinen Fall!
Macht nix! Normalerweise wagt eh kein Bürger eine auch nur halbwegs überzeugende Uniform anzuzweifeln. Polizeimarken lässt man sich nur in amerikanischen Krimis zeigen!
Der Polizist setzt sich ins Cafe, und ich stelle mich an die Kreuzung und beobachte in streng polizistlicher Haltung den Verkehr. Ich muss nicht lange warten: ein roter MX5 mit einer ebenfalls rothaarigen jungen Dame am Steuer, Typ höhere Tochter, die aus Langeweile Kommunikationswissenschaften oder Jura studiert, braust an der langen Schlange der Linksabbieger vorbei und quetscht sich erst kurz vor dem Rotlicht beim Abbiegen dreist nach links, wobei er beinahe einen Wagen des Beerdigungsinstitutes Wurm rammt.
Meine Trillerpfeife kreischt gellend und ich winke die junge Dame an den Bordstein.
"Habe ich was Schlimmes gemacht, Herr Oberwachtmeister?" flötet sie und klimpert so heftig mit den künstlichen Wimpern, so dass man unwillkürlich meint, ein paar Kastagnetten zu hören. So was mag bei den jungen BePos ziehen, aber nicht bei mir!
"Ihr letztes Backbord-Manöver war nicht so ganz koscher, junge Frau", sage ich ohne sie anzusehen und lasse die Trillerpfeife cool um den Zeigefinger kreisen. "Ich werd's Ihnen erklären: die weissen Streifen da auf dem Asphalt sind nicht nur zu Dekorationszwecken dort aufgemalt, sondern dienen dazu, die Linksabbieger von den Rechtsabbiegern zu trennen. Sie wissen doch, was links und was rechts ist, oder?"
Ihr strahlendes Blend-a-med-Lächeln erlischt wie ein Streichholz unter den konzentrierten Beschuss dreier C-Rohre, und der anfänglich warme Ton ihrer Stimme kühlt sich auf minus 40 Grad ab.
"Ich habe es zur Kenntnis genommen", sagt mit einer Stimme, die Dracula in die Flucht geschlagen hätte. "War's das dann? Kann ich jetzt weiterfahren? Oder wollen Sie mir deswegen etwa einen Strafzettel ausstellen?"
Ich lächele mein freundlichstes Lächeln. Sie weicht unwillkürlich etwas zurück.
"Ja, das war's dann. Und weil Sie es so schnell kapiert haben, üben wir da Ganze jetzt gleich noch mal!"
Sie schaut mich an, als ob ich eben erklärt hätte, dass Cabrio-Fahren dick mache.
"Üben?" sagt sie mit zum ersten Mal fassungsloser Stimme.
"Genau! Sie wenden jetzt hier und fahren bis zur letzten Kreuzung zurück.
Dann wenden Sie wieder und kommen zurück und biegen ordentlich ab, wie es sich gehört."
"Aber... aber...."
"Und damit Sie leichter wenden können, halte ich mal kurz den Verkehr für Sie an", sage ich freundlich und pfeife so schrill, dass alles auf der Kreuzung reflexartig auf die Bremse haut.
Mit hochrotem Kopf - ihre Haarfarbe passt jetzt richtig gut zur Gesichtshaut - wendet die MX5-Fahrerin und zuckelt in die Richtung zurück, aus der sie gekommen ist. Als sie sich nach weiteren 5 Minuten bis an die Spitze der Linksabbiegerspur vorgekämpft hat, wirft sie mir einen Blick zu, der mich eigentlich an den nächsten Laternenpfahl hätte nageln müssen. Ich winke fröhlich zurück.
Offensichtlich winken Polizisten nur im Notfall - was auch ich nicht wusste.
Denn gerade, als ich zu meinem Polizisten zurückgehen will, braust ein Streifenwagen heran und hält mit quietschenden Reifen direkt neben mir. Die Polizistin auf dem Beifahrersitz - gar nicht mal so unhübsch - lässt eilig die Scheibe herunter:
"Alles in Ordnung, Kollege? Brauchst du Amtshilfe?"
"Sehe ich so aus, als ob ich Hilfe bräuchte?" frage ich zurück. "Übrigens darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie im absoluten Halteverbot stehen!"
Die Polizistin blinkert einmal mit ihren himmelblauen Augen, dann macht sie den Mund auf - und wieder zu. Halblaut fragt sie ihren Kollegen am Steuer:
"Sag mal: Kennst DU den?"
"Quatsch!" sage ich, bevor der andere seine letzten 300 Gehirnzellen zuschalten kann. "Sie können mich ja gar nicht kennen. Ich bin doch bloss Komparse erster Klasse. Aber mit eigener Zeile: 'Übrigens darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie im absoluten Halteverbot stehen!'"
"Häh?"
"Wir drehen hier einen Film, Leute! Fernsehen, claro? Da drüben im Cafe sitzt eine unserer Hauptrollen..."
Ich deute auf den Polizisten, der uns vorsichtshalber den Rücken zugewandt hat und krampfhaft versucht, unsichtbar zu sein. Die beiden Streifenpolizisten recken die Hälse und gucken interessiert hinüber. Seine abstehenden Segelohren sind so rot wie die Ampellichter.
"... ja der da, mit den roten Ohren. Wir proben gerade die Szene, wo er von der angeheirateten Schwiegermutter seiner Ex-Freundin mit seinem eigenen Neffen im Cafe beim Knutschen erwischt wird. Dabei kommt dann endlich raus, dass er bi ist. Deshalb haben sie ihm schon mal die Ohren so rot geschminkt... Jetzt seid so gut, liebe Leute und macht den Plot mal wieder frei, ja? Sonst werden wir heute nicht mehr fertig, ok? Hmm... hrrrm... 'Übrigens darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie im absoluten Halteverbot stehen!'... ja... nicht schlecht, wie? Ihr könnt ja dann später wiederkommen und den Verkehr für uns aufhalten, wenn wir den Kamera-Kran wieder aus der Kanalisation hieven müssen... Wie? Na, so in drei Stunden etwa, was weiss ich? Bin ich der Produzent?... Ja, ciao, ciao, ebenfalls...
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