Auf dem Weg zur Uni lese ich in der Abendzeitung meines Gegenübers, dass nach vorsichtigen Schätzungen von Spezialisten (die namentlich nicht genannt werden wollen) ca. 71einhalb Menschen in Deutschland an den Folgen der BSE-Krise sterben werden (80pt Helvetica fett). Nach dem Umsteigen - das Münchner U-Bahn-System ist nach dem inversen 'Traveling-Salesman-Problem' entworfen: es maximiert die mittlere Anzahl von Umsteige-Zyklen bezogen auf alle Münchner, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren müssen - nach dem unvermeidlichen Umsteigen also lese ich in einer winzig-kleinen Meldung der nächsten Abendzeitung, die mir der freundliche U-Bahn-Mitfahrer ins Gesicht schiebt, dass nach vorsichtigen Schätzungen des Bundesamtes für Statistik im letzten Jahr ungefähr 32000 Menschen in Deutschland an den Folgen des Passiv-Rauchens gestorben sind. Es ist immer wieder erfrischend zu beobachten, wo die menschliche Gesellschaft ihre momentanen Prioritäten setzt, denke ich befriedigt, während ich die letzten hundert Meter zur Uni durch asbest- und bleigeschwängerten Benzingestank zurücklege. Eigentlich bleibt für unsereins gar nicht mehr soviel zu tun; das meiste erledigen die Politiker und ihre nimmermüden Helfershelfer, die Journalisten, ganz von alleine!
Im Aufzug allerdings ändert sich schlagartig meine morgendliche Hochstimmung: Ein unglaublicher Zigarettenmief hängt in der Kabine, so dicht, dass ich Mühe habe, das Schild 'Rauchen verboten!' zu erkennen. Ich versuche, bis in den vierten Stock die Luft anzuhalten, aber schliesslich bin ich kein Walross.
Sobald ich in meinem Allerheiligsten angekommen bin, fahre ich die Schutzschilde hoch und wähle die Nummer des 'Obersten der Klingonen'. Der 'Oberste der Klingonen' (Leiter der Hausinspektion) und ich haben ein seit Jahrzehnten bewährtes Waffenstillstandsabkommen: Es besteht darin, dass er seine Hausmeister-Klingonen anhält, sich möglichst nicht in meine Angelegenheiten einzumischen, und ich bemühe mich im Gegenzug, die materiellen Verluste an der universitären Bausubstanz auf ein absolut notwendiges Minimum zu beschränken.
Es sei ein Skandal, wettere ich los, bevor er rasch wieder auflegen kann. In den Aufzügen könne man ja glatt ersticken, wenn man bis in den sechsten Stock müsse. Keinerlei Zwangsentlüftung, kaputte Ventilatoren, Riesenschlamperei, u.s.w...
Bevor ich noch detailliert auf die neuesten Statistiken des Bundesamtes über das Passiv-Rauchen eingehen kann, verspricht der 'Oberste der Klingonen' hastig sofortige Abhilfe und dass einer "seiner fähigsten Leute" sich die Lüftung stante pede anschauen werde.
Zwei Stunden später bin ich auf dem Weg ins DVD-Archiv, als ich gedämpfte Hilferufe aus dem Treppenhaus vernehme. Laut Anzeige steckt einer der Aufzüge zwischen dem ersten und zweiten Geschoss fest. Ausserdem bemerke ich interessiert, wie eine dünne Rauchfahne zwischen den geschlossenen Lifttüren hervorkräuselt.
Streng nach der Tschernobyl-Methode 'Erst mal Ruhe bewahren!' drücke ich nicht den nächsten Feuermeldeknopf (wobei mir jetzt erst auffällt, dass wir in unserem Gebäude gar keinen haben!), sondern steige erst einmal die Treppe hinunter, um die Lage genauer zu sondieren.
Im ersten Stock hat ein Typ im Blaumann mit dem Notschlüssel die Schiebetüren einen Spalt weit geöffnet und wedelt mit irgendwas im Aufzugsschacht herum. Von hier unten sind die Hilfeschreie besser zu hören. Ich unterscheide deutlich mindestens drei verschiedene Stimmlagen. Ich tippe dem Blaumann auf die Schulter und frage, was denn los sei. Der Typ - offensichtlich hat er mich nicht vorher bemerkt - fährt herum und ich kann sehen, dass das Ding was er da in den Aufzugsschacht hält, verdächtig nach einer Rauchfackel, Klasse III, aussieht. Die Dinger werden normalerweise zum Einweisen von Rettungshubschraubern verwendet und kotzen Rauch wie ein Seehund, der zum ersten Mal an einer oberbayerischen Freibier-Partie teilnimmt.
"Oh... ähm..." sagt er und fährt sich mit der Zunge über die Lippen,
"... kein Anlass zur Beunruhigung. Ich... äh... ich räuchere nur gerade den Aufzugsschacht ein... äh... aus. Von wegen Wespennestern und so..."
"Wespennester im Aufzugsschacht?"
Der Kerl blickt mich mit seinen treuherzigen Blauaugen unschuldig an.
"Prophylaktisch sozusagen... Sie verstehen? Man kann nie vorsichtig genug sein..."
Ich bemerke ein Namensschild vorne auf seiner blauen Jacke:
'B.H. v. Hellinger'
Etwas kleiner darunter: 'Hausinspektion Universität München'.
Einen Moment lang schwellen die Hilferufe deutlich an, als offensichtlich alle drei Fahrstuhlreisenden ihre Stimmkraft zur konzertierten Aktion vereinen. Der Blaumann und ich lauschen andächtig.
"Anscheinend haben Sie tatsächlich ein paar Wespen da drin erwischt",
sage ich und lege nachdenklich den Kopf schief, "ich höre da doch was summen..."
B.H. v. Hellinger nickt vorsichtig zustimmend.
"Ja, kaum zu glauben, wo man die überall antrifft. Auch, wo man es gar nicht erwarten würde..."
"Ekelhaft!"
"Zum Beispiel letzte Woche in der Raucherzone der Cafeteria..."
"Nein!"
"Mhm... und immer zu mehreren. Wo eine auftaucht, kommen garantiert gleich noch mehr..."
"Sehr unangenehm! Ich habe gehört", fahre ich beiläufig fort, "dass viele Wespenarten Nikotin in ihrem Gift verwenden."
"Tatsächlich? Interessant!"
"Wahrscheinlich eine evolutionäre Anpassung an das nikotinhaltige Blut von Kettenrauchern. Wenn die armen Viecher die stechen... Sie verstehen... nur leider macht das die Biester für Nicht-Raucher jetzt noch gefährlicher..."
"Ein Grund mehr, mal hier kräftig durchzugreifen, Herr... äh... Herr..."
"Leisch", sage ich, "ich bin Assistent oben im LEERstuhl für ...."
Beim Klang meines Namens huscht ein Zeichen des Wiedererkennens über sein Gesicht.
"Ich denke, man sollte sicherheitshalber auch noch den anderen Schacht ausräuchern, was meinen Sie?"
B.H. v. Hellinger zieht energisch eine weitere Rauchfackel aus der Tasche. Ich senke zustimmend die Augenlieder.
"Bei Wespen kann man nie vorsichtig genug sein, nicht?"
"Allerdings ist das richtige Timing entscheidend..."
"Kann ich mir denken", sage ich nickend, "zu früh und sie sitzen alle sicher in ihrem Nest; zu spät und sie sind schon oben durchs Dach davongekommen..."
"Man könnte sie allerdings am Entkommen etwas hindern, indem man die Fahrkabine richtig positioniert", erklärt B.H.v.H. und steckt den Schlüssel in die externe Fahrzeugsteuerung.
Ich steige halb die Treppe zum Erdgeschoss hinunter und warte geduldig. Keine Minute später steigen zwei Studentinnen in den anderen Fahrstuhl; beide nuckeln enthusiastisch an ihrem Glimmstengel, was sie nicht davon abhält, pausenlos zu quatschen.
Ich nicke meiner neuen Bekanntschaft zu und der Aufzug bleibt fahrplanmässig zwischen ersten und zweitem Stock stecken. B.H.v.H. zwängt die Türen einen Spalt weit auf und überreicht mir mit einer angedeuteten Verbeugung die Rauchfackel. Ich schlage den Zünder kräftig gegen den Stahlrahmen des Aufzugs und halte das fauchende Ding in den Schacht hinaus.
Wir unterhalten uns noch eine Weile glänzend, während die Fackeln vor sich hin dampfen, und die Hilfeschreie langsam ersticken. B.H.v.H. erklärt mir unter anderem, dass die beste Methode gegen Hundebesitzer, die ihre Schutzbefohlenen auf den Gehsteig vor der Hausinspektion kacken lassen, darin bestehe, diesen zu folgen (den Hundebesitzern meine ich), ihre Adresse ausfindig zu machen und das nächste Mal die Hundekacke per UPS an sie zurückzuschicken. Das Port übernehme - da dienstlich - die Uni!
"Ich sehe, Sie lieben Ihren Beruf", sage ich anerkennend.
Ganz zweifellos! Einer der ganz grossen Vorteile, bei der Hausinspektion zu arbeiten, sei, dass man ungestraft die Damentoiletten kontrollieren könne. Ich könne mir gar nicht vorstellen (da ein Mann), was dort alles abgehe!
"Die besten Parties meines Lebens habe ich in Damentoiletten erlebt", schwärmt er mit verzückten Augen.
Ausserdem könne man als Hausmeister ungeniert mit schwerem Handwerkergerät hantieren, ohne wirklich etwas davon zu verstehen. Schneepflüge, Bohrhammer, Brecheisen, Eletroschweissen, Abrissbirne, Dynamit... Wenn dann wirklich mal was schiefgehe - "eine Wand herausfällt oder so was..." - dann könne einem hinterher niemand einen Vorwurf machen, weil man schliesslich von Anfang an darauf hingewiesen habe, dass der dreimal so teure Handwerker das sicher besser beherrsche.
Nachdem die Fackeln verglüht sind, schicken wir die beiden Fahrstühle in den sechsten Stock, damit wir Zeit haben, das Feld zu räumen. Nach der Anstrengung lade ich B.B.v.H. auf ein Bier im Atzinger ein.
Am Haupteingang begegnet uns der 'Oberste der Klingonen'. Bei unseren Anblick - wir sind gerade in ein angeregtes Gespräch vertieft, mit welcher Methode man Pissoirs am effektivsten verstopfen könne - verzieht der 'Oberste der Klingonen' schmerzlich das Gesicht.
"Ich wusste", murmelt er kaum vernehmbar in seinen Bart, "dass das ein Fehler war..."
© Copyright Florian Schiel 2001
B.H.v.H.
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