Die Semesterferien haben gerade begonnen. Und jetzt, da endlich alle lästigen StudentInnen (da wars mal wieder!) irgendwo in Timbuktu darauf warten, von muslimischen Fundamentalisten entführt zu werden (früher nannte man das: 'Urlaub'!), will ich die Zeit meiner Sprechstunde nutzen, im Hof hinter dem neuen Gen-Zentrum mit Frau Bezelmann ein wenig Panzerfaust-Schiessen zu üben. Ich habe schon den Helm auf, da klopft es an meine Türe. Der Chef kann es nicht sein, der klopft nie an. Trotzdem lasse ich sicherheitshalber den Helm hinter dem Raid-Array verschwinden und rufe 'Herein!'.
Draussen steht eine Studentin und blinzelt durch ihre 2 x 4,5 Dioptrien kurzsichtig in mein Allerheiligstes. Ich seufze. Sie ist genau der Typ, den ich jetzt am allerwenigsten brauchen kann. Der Typ, der alles ganz genau erklärt haben will und dann in der Prüfung doch alles durcheinander bringt. Der Typ, der keine Vorlesung verpasst, alles haarklein mitschreibt, aber nix kapiert. Ich habe im Prinzip nichts gegen Frauen - ganz im Gegenteil! Ich finde es zum Beispiel sehr erfreulich, wenn das uniforme Bild von geschmacklosen Sweat-Shirts und Kordhosen in meiner Vorlesung durch das eine oder andere hübsche weibliche Outfit aufgelockert wird. (Falls ihr es nicht bemerkt haben solltet: das war der längst mal wieder fällige Chauvi-Spruch in dieser Kolumne!) Aber nicht in den Semesterferien und nicht, wenn ich mit Frau Bezelmann verabredet bin! Frau Bezelmann warten zu lassen, ist ungefähr das Äquivalent zu einer Eisbärenmutter erklären, dass ihr Eisbärenjunges gerade eine steile Karriere im Pelzwarenhandel begonnen hat.
"Äh ...", sagt sie und kommt zögernd näher.
"Ja?" sage ich ungnädig.
"Ich hätte da eine Frage zu ... zu Ihrem Proseminar ... äh ...", sie blättert hastig in einem umfangreichen schmuddeligen Computerausdruck, den ich unschwer als mein Online-Skript erkenne.
"Ja, äh ... hier: 'Quantendifferentielle Relations-Dynamik von stochastisch transformierten Matrix-Tensor-Beziehungen'."
Sie bringt es immerhin fertig, den Titel ohne Fehler vorzulesen. Bei den meisten Studenten reicht das schon für die Note 3.
"Ja? Und was hätten Sie da gerne gewusst?" sage ich freundlich(!).
"Ja, also ich glaube ... es könnte sein, dass da ein Fehler ist .. in Ihrem Skript, meine ich ..."
"Ein Fehler?"
"Hier auf ... auf Seite 1523 ist die Ruhemasse des Protons mit 1,6735 mal 10 hoch minus 27 Kilogramm angegeben. Im Käding steht aber 1,6725 ..."
Sie hält mir den Text unter die Nase, den ich vor Jahren mal bei einem längst emeritierten Physik-Professor im Papierkorb gefunden hatte. Ich fand damals die vielen Formeln irgendwie putzig und beeindruckend; deshalb habe ich das Ding eingescannt und in den Anhang zu meinem Online-Skript gepackt, obwohl es natürlich nichts, aber auch gar nichts mit meiner Vorlesung zu tun hat.
"Ha, ja", sage ich. "Das ist kein Fehler, sondern ein Feature ... ich meine, das ist eine sogenannte verifizierbare kreuz-didaktische Referenz-Entität."
"Eine kreuz-didaktische ... äh ... was?"
Mit anderen Worten: DUMMY STUDENT MODE ON
"Eine verifizierbare kreuz-didaktische Referenz-Entität", wiederhole ich streng. "Wissen Sie vielleicht nicht, was das ist?"
Die Studentin räumt kleinlaut ein, davon noch nie etwas gehört zu haben. Ich bis vor kurzem auch nicht.
"Eine verifizierbare kreuz-didaktische Referenz-Entität ist ein absichtlicher Fehler in den Unterlagen, anhand dessen ich prüfen kann, ob der candidatus den Stoff wirklich verstanden hat, oder lediglich den Inhalt des Skriptes wiederkäuen kann, verstehen Sie?"
"Oh", sagt sie erleuchtet.
"Wenn Sie jetzt in der Prüfung den tatsächlichen Wert für die Ruhemasse des Protons verwenden, sehe ich, dass Sie es wirklich verstanden haben und Sie bekommen einen Pluspunkt", erläutere ich salbungsvoll.
Ihr Gesicht strahlt, soweit man mit 4,5 Dioptrien und Monster-Akne eben strahlen kann (rot hauptsächlich!).
What a sucker!
'Pluspunkt' geht ihr runter wie warmes Olivenöl. Vor lauter Begeisterung fällt der Studentin gar nicht auf, dass in meiner Vorlesung von Protonen niemals die Rede war! Hoffentlich war's das dann jetzt, sonst fängt Frau Bezelmann noch ohne mich an!
"Oh, gut!" wiederholt sie. "Ich, meine ... ich wollte sagen: Gut, das hab' ich verstanden ... äh ..."
Ich stehe auf, um anzudeuten, dass ich noch Besseres in den Semesterferien zu tun habe, als Studenten auf ihre offensichtlichen IQ-Defizite hinzuweisen. Aber sie bemerkt das gar nicht, sondern blättert immer noch in dem verdammten Skript.
"... und ... ähm ... hier auf Seite 897 in Abbildung 76a ..."
Das geht jetzt aber wirklich zu weit! Aus dem Hof hinter dem neuen Gen-Zentrum höre ich eine gedämpfte Explosion und fallende Glassplitter. Das bedeutet, dass Frau Bezelmann wirklich schon ohne mich angefangen hat! Ich drücke unauffällig auf den Fussschalter unter meinem Schreibtisch. Sofort gellt ein durchdringender Alarmton durch mein Allerheiligstes!
"Was ist das denn?!" schreit die Studentin erschrocken und lässt das Skript auf den Boden knallen.
"Verdammt!" schreie ich und entfalte eine hektische Aktivität, springe zu einem Display, wo noch die Reste von 'Dune' herumlungern, und hacke frenetisch ein paar sinnlose Zeilen.
"Grosser Core-Dump! Das ist ein WA!" brülle ich über den Lärm der Sirene. "Ein Wurm-Alarm! Ein Internet-Wurm ist über die Firewall eingedrungen! Wir müssen sofort sämtliche Router von Netz trennen! Tun Sie mir einen Gefallen und laufen Sie hinüber in den Rechnerraum (gleich gegenüber, gar nicht zu verfehlen) und stellen Sie den roten Netztrennschalter neben dem Fenster auf 'Off'!"
"Aber ich ..."
"Kein Zeit! Machen Sie schnell!!!" brülle ich, und sie rast tatsächlich los.
Drüben im stillgelegten Experimentierpraktikum, gleich gegenüber von meinem Büro, sitzt wie immer Yogi Flop, unser esoterischer Physiker, und bewacht seinen Versuchsaufbau zur Detektion von mikroskopischen paraphysikalischen Anomalien. Tatsächlich hockt er schon ziemlich lange da; man könnte auch sagen, dass er praktisch da drüben lebt, mehr recht als schlecht am Leben gehalten von mitleidigen Seelen hier am LEERstuhl, die ihm ab und zu eine Pizza mitbringen. Yogi Flops Theorie besagt nämlich, dass ein direkter Zusammenhang zwischen der Wahrscheinlichkeit des Auftretens paraphysikalischer Effekte und der Dauer des vorherigen permanenten Beobachtens besteht. Konkret, je länger man ununterbrochen zwei winzige Mühlesteine unter dem Mikroskop beobachtet, desto wahrscheinlicher wechseln sie in genau dem Moment scheinbar ohne physikalischen Grund die Position, wenn man gerade wegschaut. (Böse Zungen behaupten bis heute, Yogi Flop sei auf diese abstruse Theorie gekommen, nachdem wir zusammen mal eine ganze Nacht im Atzinger Schrödingers Gleichungen diskutiert hatten. Das ist selbstverständlich die reinste Phantasie; zumindest konnte bis jetzt keiner beweisen, dass da ein kausaler Zusammenhang besteht.) Da die ersten Versuche keinen Erfolg zeigten, hat Yogi Flop die permanenten Beobachtungszeiten immer weiter ausgedehnt; im Moment muss er so bei 2 bis 3 Wochen angelangt sein.
Jetzt aber stürmt auf einmal diese Studentin zu Yogi Flop herein. Da er seine Augen nicht vom Mikroskop nehmen darf, kann er nicht sehen, wer es ist, und vermutlich denkt er, jemand bringt wieder mal eine klein geschnittene, kalte Pizza vorbei. Die Studentin rennt, ohne Yogi Flop überhaupt wahrzunehmen, zum roten Schalter für die Notabschaltung und dreht - Ruckzuck! - im ganzen Labor den Saft ab. Erst wird es schwarz vor Yogis Augen (weil die Mikroskopbeleuchtung ausgeht), dann, als seine verblüfften Ganglien endlich ans Grosshirn melden, was da passiert ist, sieht er rot!
Mit einem Wutgeschrei, das Jonny Weissmüller alle Ehre gemacht hätte, stürzt sich Yogi Flop aus seiner dunklem Beobachtungsecke auf die verblüffte Studentin. Erschrocken weicht sie zurück; vermutlich denkt sie, es handele sich um eine mystische Materialisierung des Internet-Wurms, der da auf sie zukommt. Sie stolpert rückwärts über einen Stapel uralter Computerbänder und kracht voll in den ausrangierten Versuchsaufbau zur Bestimmung der Ruhemasse des Protons!
(Welch Ironie die Realität um uns herum für uns täglich bereit hält, wissen nur wenige Zeitgenossen wirklich zu schätzen. Zum Beispiel wenn der Finanzminister darüber schwafelt, dass die Steuern gesenkt werden müssen, und im gleichen Atemzug von einer 'notwendigen Verbreiterung der Einnahmebasis' spricht.)
Während Yogi Flop lautstark die Studentin zur Sau macht, schliesse ich ganz schnell mein Allerheiligstes ab und sprinte mit Helm zum Hof hinter dem neuen Gen-Zentrum (das inzwischen schon einige Löcher hat). Schliesslich will ich heute auch noch ein wenig Spass haben!
© Copyright Florian Schiel 2001
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