Es ist der erste Tag nach den Weihnachtsferien, und der Wecker zieht mir ein heulendes Kreissaegeblatt quer durch das Grosshirn, bevor ich ihn abwuergen kann. Als ich mich endlich mit letzter Kraft um halb zwoelf ins Buero geschleppt habe, bin ich viel zu erschoepft, um noch irgendetwas Sinnvolles anzufangen. Man sollte mal ernsthaft darueber nachdenken, ob die deutschen Beamten wirklich so viel Urlaub brauchen. Ich bin danach immer wie erschlagen, weil ich alle groesseren Freizeitaktivitaeten in die Ferien verlege, was natuerlich millionenmal anstrengender ist als der normale Bueroalltag.
Ich kille lustlos ein paar von Mariannes Simulationsprozessen, loesche die gesamte ueber die Ferien aufgestaute Usermail und klemme den Router zum Hochschulnetz ab. Nur damit allen Mitarbeitern klar ist, dass ich wieder aus den Ferien zurueck und in schlechtester Stimmung bin.
Nach dem Mittagessen geht es mir auch nicht besser und ich beschliesse, dass ich es fuer den ersten Tag genug sein lasse, und mache einen kleinen Spaziergang zu meiner Stammbank gegenueber vom Eiskaffee in der Tuerkenstrasse.
Trotz eisiger Temperaturen ist meine Stammbank bereits belegt. Ein riesenhafte Gestalt gehuellt in eine Mischung aus russischer Winterkampfanzug und Biwakzelt, den runden Kopf halb in eine roemische Senatorentoga gewickelt und zur Kroenung darauf die groesste Pudelmuetze, die ich jemals gesehen habe. Zwischen Muetze und Toga beobachten mich misstrauisch ein paar aufmerksame und auffallend helle Augen.
Ich gruesse hoeflich und lasse mich auf dem freien Ende der Bank nieder; der Riese nickt nur zum Gruss und rueckt die obligatorischen hoeflichen drei Zentimeter nach aussen, obwohl die Bank auch so reichlich Platz fuer zwei bietet.
Die naechsten fuenf Minuten passiert nichts. Der Kellner vom Cafe gegenueber staubt vor Langeweile die Lampen ab; eine bis aufs Blut genervte Mutter mit Kleinkind im Schlepptau und Kinderwagen zerrt mit letzter Kraft ihre Brut durch den Schnee; zwei Kleinwagen kollidieren sanft auf der spiegelglatten Fahrbahn.
Ploetzlich sagt der Riese unvermittelt und mit einer ueberraschend hohen Piepsstimme:
"Haben Sie Kinder?"
"Aeh ... nein?" antworte ich.
"Eben!"
Fuenf Minuten Pause. Dann wieder der Riese:
"Sie haben keine Kinder und sind sicher noch keine fuenfzig Jahre alt."
Seine Stimme klingt irgendwie befriedigt ueber diese Feststellung. Ich sage nichts, weil ich weiss, dass man in Schwabing mit allem Moeglichen rechnen muss, und das beste Rezept in so einem Falle ist immer noch:
Maul halten und ruhig sitzen bleiben.
Zwei weitere Kleinwagen kollidieren genau an der gleichen Stelle wie vorher. Ein Rentner schlurft vorbei, vertieft in eine aufgeschlagene Bild-Zeitung. Die Schlagzeile lautet: 'Gesundheitsreform'.
Der Riese schnaubt und die Pudelmuetze wackelt bedrohlich.
"Gesundheitsreform!" quiekt er veraechtlich mit piepsiger Stimme. "Wenn man auf mich gehoert haette, braeuchten wir keine Gesundheitsreform! Na! Ha! Wissen Sie", damit dreht sich der Kampfanzug-Biwak-Sack etwas in meine Richtung, "wissen Sie, warum unser Gesundheitssystem nicht mehr funktioniert?"
"Aeh ..."
"Weil wir immer aelter werden! Und je aelter wir werden, desto kraenker! Und je kraenker desto teurer!"
Der Riese starrt mich auffordernd an, bis ich mir ein neutrales "So." abringe.
"Und jetzt verlangen unsere POLITIKER, der Riese aeussert das Wort 'Politiker' mit solcher Verachtung, dass er beim Aussprechen gleich dreimal spuckt: einmal im 'P', im 't' und im 'k', "unsere POLITIKER, die wollen uns einreden, das Problem waere dadurch zu loesen, dass wieder mehr Kinder in die Welt gesetzt werden. Und was passiert dann mit den armen Kindern?!"
Wieder ein penetrantes Starren.
"Sie zahlen die fehlenden Beitraege in die Krankenkassen?" murmele ich vorsichtig.
"Sie zahlen die fehlenden Beitraege, genau!" bestaetigt der Riese grimmig,
"und dann?"
"Dann ...?" sage ich hilflos.
"Dann werden sie alt!" bruellt der Riese so unvermittelt, dass ein Schosshund, Typ 'Indische Strandratte', der gerade an unserer Bank ein Bein heben wollte, vor Schreck mit allen vier Beinen in die Luft geht.
"Dann werden sie auch alt! Oder sogar noch aelter! Und was passiert, wenn sie alt werden?"
"Aeh ..."
"Sie werden krank! Oder noch kraenker! Und bestimmt noch teurer! Und wer soll das dann bezahlen? Noch mehr Kinder, wie? Was?! Na!"
Der Bommel auf seiner Pudelmuetze zittert heftig. Die aeltere Dame mit Schmetterlingsbrille zerrt heftig an der Leine ihrer Strandratte und schiesst einen empoerten Blick in unsere Richtung. Der Riese beachtet sie gar nicht.
"Ha! Na! ... hrrrm ..." Der Riese rutscht auf der Bank hin und her und faehrt in normalem Tonfall fort:
"Gestatten ... aeh ... Maierlinger, Professor fuer Humanbiologie ..."
Ich stelle mich meinerseits vor, aber der Professor hoert gar nicht zu. Daran erkenne ich, dass es sich tatsaechlich um einen Professor handeln muss, wenn auch einen - wie er mir bereitwillig mitteilt - der schon lange nicht aktiv an der Universitaet taetig ist.
"Keine Zeit fuer solchen Mumpitz!" piepst er energisch, und der Bommel der Pudelmuetze schuettelt sich wegwerfend. "Muss mich schliesslich um meine Forschungen kuemmern, beziehungsweise um deren Umsetzung in der Gesellschaft!"
Auf vorsichtiges Nachfragen hin laesst sich der Professor herab, mir seine Forschungsergebnisse zu erlaeutern.
Es sei alles ganz einfach: Die ganzen derzeitigen Probleme unseres Sozialsystems seien lediglich auf eine leicht zu erklaerende Instabilitaet im Evolutionsprozess zurueckzufuehren. Infolge der verbesserten Lebensbedingungen - hauptsaechlich der besseren Ernaehrung - steige die Lebenserwartung stark an. Aeltere Menschen neigen eher dazu, krank zu werden und fallen daher gehaeuft dem Sozialsystem zur Last. Warum kraenkeln eher aeltere? Nur weil sie eben alt sind? Ganz falsch! Es gibt durchaus auch aeltere bis sehr alte Menschen, die sich bis zu ihrem Tode bester Gesundheit erfreuen. Nur: diese 'gesunden Alten' ueben keinen evolutionaeren Druck auf den Genpool aus, weil sie im Alter keine Kinder mehr zeugen. Andersherum betrachtet sind juengere Menschen deshalb eher gesund, weil sie sich wahrscheinlich noch fortpflanzen. Wuerden sie naemlich schon jung krank werden, wuerden sie ihre Gene nicht mehr weitergeben, was also zwangslaeufig dazu fuehrte, dass unser Genpool die
Gesundheit im fortpflanzungsfaehigen Alter erhaelt, dann aber nicht mehr.
"Haben Sie das soweit verstanden?" faehrt mich der Professor heftig an.
Ich bestaetige, dass ich verstanden habe, wende dann aber ein, dass ja eine hoehere Lebenserwartung trotzdem nichts Schlechtes sei. Schliesslich profitieren wir ja alle davon.
"Und die zusammenbrechenden Sozialsysteme?" quiekt der Professor. "Systeme, die entweder auf unbegrenzten Bevoelkerungszuwachs setzen oder auf eine stabile Lebenserwartung? Was machen die? Ha? Na! Eben! Zusammenbrechen tun sie!"
Ich raeume ein, dass das im Moment ein Problem sei, aber wie wolle er das loesen? Ein festgelegtes Lebensalter wie in A. Huxleys 'Schoene neue Welt'? Am 65sten Ruebe ab?
"Natuerlich nicht!" schnauft der Professor und rafft empoert seine roemische Toga enger um seinen ansehnlichen Hals. "Die Lebenserwartung steigt unaufhaltsam, aber die Menschen sollten nicht nur aelter, sondern auch gesuender werden!"
"Aha? Und wie? Noch mehr Jogging?"
Ganz einfach, erlaeutert mir der Professor: Man muesse nur dafuer sorgen, dass nicht nur die Lebenserwartung staendig ansteige, sondern auch das Alter, in dem sich die Leute fortpflanzen. Weil, wer sich bis ins hohe Alter so gesund gehalten hat, dass er noch Kinder bekommt, wird vermutlich in seinen Genen diese Eigenschaft weitergeben. Zu deutsch:
Gene, die Alte krank machen, werden nicht mehr ueberleben.
Ich schaue mich unauffaellig um, ob unter der Bank nicht zufaellig einer von Bayerischen Verfassungsschutz sitzt und mitschneidet.
"Das klingt aber verdaechtig nach gezielter Auslese, Rassenlehre etc.", sage ich vorsichtig.
"Quatsch!" schnauft der Professor veraechtlich. "Wer spricht denn von Zwangsmassnahmen? Die Tendenz ist ja schon da: das Durchschnittsalter der ersten Geburt ist heute viel hoeher als vor hundert Jahren. Nur leider geht das alles viel zu langsam! Unsere Lebenserwartung laeuft uns davon!"
Ich frage ihn, was er denn dann vorschlagen wuerde, um die Spaetzeuger zu foerdern, aber just in diesem Moment treten zwei weiss gekleidete Tennisschuhtraeger hoeflich, aber zielstrebig an unsere Bank. Anscheinend kamen sie aus der Eisdiele gegenueber.
"Na, Herr Professor? Dann woll'n wir mal wieder?" sagt der Dickere gemuetlich.
Die beiden fassen den Riesen behutsam unter den Armen. Dieser beachtet sie gar nicht:
"Steuerfreibetraege fuer jedes pre-natale Jahr!" ruft er mir zu. "Kindergeld erst ab 45 Jahren!"
Die beiden Pfleger halten den Professor an beiden Armen fest und bugsieren ihn langsam in Richtung eines VM-Bus mit der Aufschrift 'Uni-Klinikum - Geschlossene Abteilung'. Der Professor geht rueckwaerts, ohne den Blick von mir zu wenden.
"Samenbanken fuer Spender ab 80! Einen Praemien-Porsche fuer gebaerende Muetter ueber 55!!"
Die genervte Mutter - jetzt anscheinend mit ihrer Brut auf dem Rueckweg - bleibt verwundert stehen und beobachtet mit mir zusammen, wie sie den Professor in den VM-Bus stopfen. Sein Blick irrt von mir ab und faellt auf die junge Mutter, die hoechstens 25 Jahre alt ist.
"Sie!" bruellt er mit ueberschnappender Stimme. "Sie! Haetten Sie nicht wenigstens warten koennen bis Sie 40 sind?! Ha? Na! Wenigstens 38 ..."
Die Tuer faellt zu, und wir koennen nicht mehr verstehen, was der Professor sonst noch an guten Ratschlaegen fuer die Mutter neben mir auf Lager hat.
"40! Als ob ich es dann nicht sowieso besser wuesste ..." murmelt die junge Mutter veraechtlich und zerrt ihre Brut weiter die Strasse hinauf.
Ich wische mir den Schweiss von der Stirn, denke: "Grosser Core-Dump!" und gehe nach Hause.