Es ist Mai und wir sind jetzt mitten in der heissen Phase des Sommersemesters. Alle Seminare sind nach vier Wochen Starthilfe soweit angelaufen, dass immerhin 30% der Studenten auch wirklich erscheinen; auf meinem Stack stapeln sich die ganzen verspaetet abgegebenen Semesterarbeiten von letzten Jahr und warten darauf, dass ich endlich die Energie aufbringe, sie in den Reisswolf zu stopfen; im Biergarten vor der Cafeteria tobt der Balzkampf um die coolsten Studentinnen (die mit den meisten Piercings und/oder den wenigsten Klamotten am Leib); der Kollege Rinzling wird jeden zweiten Tag mit akuten allergischen Reaktionen vom Notarztdienst abgeholt; meine Server verrecken reihenweise, weil sich die Klimaanlage - wie jedes Jahr - nicht von 'Arktisch' auf 'Subtropisch' umschalten laesst; und Frau Bezelmann uebt im Sekretariat
mit ihrer brandneuen Boozooka, so dass inzwischen schon vier Studenten mit akutem Hoerschaden in der HNO-Klinik liegen. (Frau Bezelmanns Boozooka ist ausnahmsweise mal keine Boden-Luft-Rakete, sondern ein Musikinstrument, das sie auf dem Flohmarkt von Toschmakota in Hindustan entdeckt hat. Experten sind sich mittlerweile darueber einig, dass es sich dabei um ein Instrument handele, das extra so entworfen wurde, dass es NICHT harmonisch gestimmt werden kann, und dass nach dem geltenden Bundesimmissionsschutzgesetz eigentlich jeder im Umkreis von 63 Metern einen Gehoerschutz tragen muesse.)

Mitten in diesem Chaos sitze ich in meinem Allerheiligsten, stopfe mir bei Bedarf ein paar Schaumstoffflocken in die Ohren und lese in aller Ruhe die neueste Ausgabe von 'Hacker's Havoc'. Mit Befriedigung sehe ich, dass mein neuestes Patent unter der Rubrik 'Erfindungen, die die Welt nicht braucht' den Platz 1 einnimmt. Es handelt sich um einen Nabeltiefenmesser, ein handliches kleines Geraet, mit dem jeder Fitnessfanatiker seine individuelle Nabeltiefe ermitteln kann. Die Masseinheit ist 1 Leisch und entspricht genau meiner Nabeltiefe nach drei Anchovi-Pizzas und vier Litern Cola. Es versteht sich von selbst, dass in der kommenden Badesaison sich nur noch Leute mit weniger als 0.05 Leisch Nabeltiefe in die Stranddisco wagen werden.
Der Kommentator von 'Hacker's Havoc' aeussert sich haemisch im Text: man koenne sich ja so Einiges vorstellen, besonders nach Windows98 und so, aber dass jemand so abgrundtief bescheuert sein koenne, die Nabeltiefe als Fitnessindikator zu verwenden, dass sei ja wohl doch ein klein wenig zu optimistisch.
Wenn der wuesste, denke ich grinsend, und fuehle nach dem knisternden, 5-stelligen Scheck in meiner Innentasche, mit dem sich ein namhafter deutscher Sportartikelhersteller die Rechte gesichert hat.

Ich blaettere um, und mein Grinsen gefriert zu einer gruseligen Grimasse des Grauens. Das darf doch nicht wahr sein! DAS KANN DOCH NICHT WAHR SEIN!
Wenn das stimmt, was meine entsetzten Augen da lesen, und wenn ich nicht das bemitleidenswerte Opfer einer Boozooka-Musik-induzierten Halluzination bin ... dann habe ich es tatsaechlich verpasst, mir rechtzeitig Karten fuer das heutige Konzert zu besorgen. Heute Abend, lese ich erschuettert, heute Abend spielt 'Asynchroneous Core Dump Chaos' in der ehemaligen Sondermuelldeponie bei Grosslappen - UND ICH HABE KEINE KARTE!

Damit ihr versteht, warum das eine solche Katastrophe darstellt, muesst ihr wissen, dass ACDC (nicht zu verwechseln mit AC DC mit den laecherlichen elektrischen Blitzen dazwischen!), DIE Kultband fuer alle Hacker ist. Die ... hm ... Musik von ACDC klingt ungefaehr so, wie wenn man einen nicht boot-faehigen Linux-Kernel ab Version 2.2 in synthetischen Wodka taucht, mit Zitronensaeure betraeufelt und anschliessend unbearbeitet auf das Sound-Device piped, an dem ein mittelgrosses Kernkraftwerk mit Akustikwandler angeschlossen ist. Natuerlich geht auch niemand von uns dorthin, um was davon zu hoeren - dafuer gibt es schliesslich die super-coolen ACDC-Rabbit-Ears. Nein, es ist einfach ein Kultereignis, auf dem man nicht fehlen kann. Nicht fehlen darf! Garantiert schon seit Monaten ausverkauft! Und ich steh' da und hab' keine Karte!

Die Lage ist ernst! Sehr ernst! Ich fahre sofort die Schutzschilde hoch, rufe bei Frau Bezelmann an und drohe, ihren Mac platt zu machen, wenn sie nicht sofort mit dem infernalischen Laerm aufhoert. Dann trinke ich in rascher Folge drei Tassen Kaffee, werfe zwei XXXXXXX ein (you better don't know!) und denke viereinhalb Minuten scharf nach.

Als erstes begebe ich mich zum Sekretariat und linse vorsichtig durch die offene Tuere. Frau Bezelmann ist am Telefon und verbreitet sich ueber die Ruecksichtslosigkeit ihrer Kollegen, die sie nicht mal in der Mittagspause ihre Boozooka ueben lassen. Ich entwende unbemerkt ihre Ersatzbrille und klopfe gleich darauf beim Kollegen O. an. Keiner da. Bestens! Mit meinem Generalschluessel dringe ich in sein Buero ein und klaue seinen schwarzen Anzug, den er immer auf Kongressen anlegt. Zurueck in meinem Buero ziehe ich den Anzug an, kaempfe eine Weile mit dem Schlips und schmiere mir eine Tube Gleitgel ins Haar. Mit Frau Bezelmanns Brille schaue ich genauso dorky aus, wie man es sich nur wuenschen kann. So ausstaffiert gehe ich hinueber in den Innenhof der TU, wo im Audi Max das 'Muenchner Management Seminar' stattfindet. Ein riesiges Plakat haengt ueber den Eingang: 'Kompetenz-Workshop fuer zukuenftige Fuehrungskraefte'. Mit anderen Worten: das Audi Max ist im Moment gesteckt voll mit ehrgeizigen Managern der zweite und dritten Riege, die nur darauf warten, ihren Chefs endlich den Dolchstoss verpassen zu koennen. Genau das was ich brauche, um heute Abend noch ins Konzert zu kommen!

Ich betrete den Seminarraum und halte mich unauffaellig im Hintergrund bis der Vortragende eine Kaffeepause von zehn Minuten ankuendigt. Ich warte bis der Referent den Raum verlassen hat, dann stuerze ich nach vorne und lege eine Folie auf den Overhead.
'ACHTUNG - UNANGEKUeNDIGTE SONDERAUFGABE' steht ganz gross drauf.
Sofort wird es mucksmaeuschen still, wenn man von einigen Handybenutzern absieht, die noch rasch ihre Sekretaerinnen abwuergen muessen.
"Mein Herren", sage ich, und ich schwoere, es sind wirklich keine Damen da, "meine Herren: dies ist eine unangekuendigte Managementaufgabe, in der Sie beweisen koennen, wie flexibel Sie auf schwierige Situationen reagieren. Wer die folgende Aufgabe erfolgreich loest - und es kann nur einer sein -, der erhaelt an Ende des Seminars ein zusaetzliches Praedikatszertifikat. Die Aufgabe wird nur einmal muendlich gestellt und nicht wiederholt"
Inzwischen ist es absolut still; alle Moechtegern-Fuehrungskraefte haengen foermlich an meinen Lippen.
"Folgende Situation", fahre ich fort. "Der Personalvorstand des Konzerns X, den sie schon lange mal persoenlich kennen lernen wollten, ruft sie an und bittet Sie um Ihre Hilfe. Er hatte seinem Sohn Karten zum heutigen ACDC Konzert in Grosslappen versprochen, aber keine Karten mehr bekommen. Er befindet sich folglich in einer peinlichen familiaeren Situation und bittet Sie ihm zu helfen, das Unmoegliche zu schaffen und noch heute eine Karte fuer dieses Konzert zu besorgen. Sie schaffen es und besorgen sogar ZWEI Karten, die Sie unter dem Namen 'Leisch' an der Abendkasse hinterlegen lassen. Dann gehen Sie selber auch heute Abend zu diesem Konzert, lernen den Sohn des Personalvorstandes kennen und knuepfen auf diese Weise erste Kontakte mit der Familie. Wenn Sie es schaffen, bis morgen eine Einladung der Familie vorweisen zu koennen, haben Sie die Aufgabe bestanden.
Ich hoffe, Sie haben alles verstanden. Viel Erfolg!"
Damit schnappe ich mir die Folie und haue durch den hinteren Ausgang ab. Hinter mir hoere ich noch, wie aufgeregte Rufe und Fragen aus der Managermenge hochbranden.
Waehrend ich ueber den Hof zurueck zu meinem Buero gehe, sehe ich die Manager wie schwarze Fledermaeuse aus dem Haupteingang flattern. Alle haben ein Handy am Ohr und alle schreien.

Eine Stunde vor Konzertbeginn bin ich - in normalem Konzert-Outfit - an der Abendkasse, einem uralten verrosteten Wohnwagen am Maschendraht um das Sondermuellgelaende. Als ich mich nach hinterlegten Karten fuer den Namen 'Leisch' erkundige, stuerzt aus dem Halbdunkel ein Typ mit schwarzem Anzug und Schlips und stellt sich begeistert als der Besorger der Karten vor. Ich gucke ihn wortlos an, wie eine Kroete eine besonders saftige Fliege betrachten koennte, und fahre mir mit der Zunge langsam ueber meine Magnet-Piercings, die ich grosszuegig in Mund- und Nasenbereich
verteilt habe. Dann schalte ich um auf 'Extrem maulfauler angepisster, schlecht erzogener Pubertaetsluemmel aus zu reichem Hause', eine meiner Lieblingsrollen. Den Rest des Abends lasse ich mir von dem Typen, der sich wie ein gigantischer Blutegel durch nichts abschuetteln laesst, alles bezahlen, was es zu solchen Gelegenheiten kaeuflich zu erwerben gibt. Die meiste Zeit steht er allerdings nur da und presst sich seine elegante lederne Collegemappe auf die Ohren. Wahrscheinlich deshalb, weil ich und meine Kumpels unseren Stammplatz immer direkt vor den 18 Megawatt-Lautsprechertuermen haben.
Als wir gegen vier Uhr morgens das Gelaende verlassen, bemerken wir am Eingang etwa zwei Dutzend Typen im schwarzen Anzug, die von einem Bein aufs andere treten und sich die Ohren zuhalten.
Ich lasse mich noch mit dem Taxi nach Hause fahren, dann murmele ich quasi zum Abschied, ob er denn vielleicht Lust haette, mal zu uns zum Abendessen zu kommen.
"WAS?!" bruellt der Typ verzweifelt und haelt seine beiden Haende hinter die Ohren.
Ich kritzele ihm die Einladung auf die Rueckseite der Konzertkarte. Der Typ, dessen Namen ich uebrigens nie erfahren habe, strahlt ueber das ganze Gesicht und zieht uebergluecklich von dannen.
Naja, denke ich, soll er die wenigen Stunden bis zum boesen Erwachen noch geniessen. Und dann schicke ich noch rasch eine email an Frau Bezelmann, dass ich heute wegen der gestrigen Arbeitsueberlastung nicht im Buero zu erscheinen gedenke, und haue mich in die Falle.

Copyright Florian Schiel 2003

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