Ich rolle den Kollegen Rinzling im Park hinter der Glyptothek spazieren.
"Ich habe Zahnweh", murmelt der Kollege O. hinter seiner SARS-Schutzmaske. Ich versuche nicht hinzuhoeren.
"Ich habe Karies!" sagt der Kollege O. laut quengelnd. Ich seufze.
"Das hat doch jeder mal."
"Aber ich hab's auf meinen dritten Zaehnen!!"

Die anderem im Buero haben gesagt, ICH sei primaer fuer Rinzlings derzeitigen Zustand verantwortlich, also sei ICH es auch, der ihn spazierenrolle. Dieser Logik soll man mal folgen! Aber die soziale Front war diesmal so maechtig, dass ich in den sauren Apfel beissen musste.
Wir rollen also gemaechlich hinter der TU Mensa hin und her; der Kollege Rinzling niest pflichtbewusst unter jeder bluehenden Kastanie - man ist schliesslich Allergiker - und erholt sich von seinem Angina-pectoris-Anfall, an dem angeblich ich schuld sein soll.

Das kam so:

Am LEERstuhl ist ganz ploetzlich und ohne wirtschaftlichen Anlass das Spekulationsfieber ausgebrochen. Vermutlich war es der Kollege O., der die Theorie aufbrachte, wenn die Boersenkurse so niedrig seien wie jetzt, dann biete die relative Schwankung derselben prozentual ein viel hoeheres Potential zu Spekulationsgewinnen, als wenn die Aktienkurse sehr hoch seien.
"Wenn die Telekom-Aktie nur um 2 Euro 'raufgeht, sind das ganze 10%", erlaeutert er beim Kaffeetrinken begeistert. "Frueher hat es das nur ganz selten gegeben, weil der Kurs so hoch war; jetzt passiert das jede Woche mal."
Die unausweichliche Folge: Auf allen Schirmen tickern die Aktienkurse, jede Workstation ist zur Haelfte nur noch damit beschaeftigt, irgendwelche bloeden Brokerseiten zu laden.
Im Prinzip waere mir das ja egal; sollen die Leute sich nur selber ruinieren, dann habe ich weniger zu tun und es macht sich gut in der Statistik. Aber die ganzen Boersenticker belasten mein Netzwerk, und inzwischen muss ich schon bis zu hundert Sekunden warten, bis das naechste Raubvideo geladen ist. Unertraeglich!

Ich sniffe ein wenig im Netzwerk herum und stelle fest, dass die ganzen Datenpakete fuer die Ticker ueber unseren Proxy laufen. (Wer nicht weiss, was ein 'Proxy' ist, der sollte beim naechsten Familienkaffee seine Tante Erna/Luise/Adelheide/Galaxia fragen. Sie weiss es bestimmt! Und wenn nicht, dann war es wenigstens der einzige konstruktive Gespraechsbeitrag beim Familienkaffee.) Ich gehe in den Proxy-Rechner und fuege ein
einfaches Filter ein, das die Aktienkurse nach meinen Vorgaben nach unten oder oben korrigiert. Guenstigerweise kann ich im Datenverkehr genau sehen, fuer welche Aktien sich die Mehrzahl meiner Mitarbeiter interessieren.

Kurz nach der Mittagspause: alle haengen schlaff in ihren Buerosesseln, verdauen muehsam den Cafeteria-Glob und warten darauf, dass man endlich zum Kaffeetrinken gehen kann. Traege Augen mit Lidern auf Halbmast registrieren die neuesten free porns, und mit einem viertel Glubscher schielen alle auf ihre bloeden Aktienticker.
Als ersten Test lasse ich die am meisten abgefragte Aktie um 2% nach oben schnellen. Es passiert nichts; am LEERstuhl herrscht die gewohnte Nachmittagsmahlverdauuungsruhe.
Enttaeuscht lege ich noch 8% Prozent nach. Ganz hinten hoere ich Jenny in ihrem Buero quieken wie ein erfreutes Ferkel, dass kurz vor dem Schlachten entdeckt, dass es auf der Welt noch etwas anderes gibt als seinen Mastkoben. Auch in den anderen Bueros wird es lebendig. Tueren werden aufgerissen; aufgeregtes Getuschel ueber den Gang hinweg. Ich nehme den Kurs wieder um 4% zurueck und lasse zur Abwechslung mal die
anderen Kurs ein wenig 'rauf und 'runter wackeln. Sozusagen die Ruhe vor dem Donnerschlag, hehe!
Zwei Doktoranden eilen an meiner offenen Buerotuer vorbei; der eine traegt einen Vaio mit Funk-LAN-Karte; beide starren so gebannt auf den Boersenticker, dass sie glatt ueber den Computerschrott fliegen, den ich aus nostalgischen Gruenden auf den Gang aufgestapelt habe. Die naechsten zwanzig Minuten lasse ich die Hauptaktie jede Minute um ein Prozent ansteigen. Die letzten Prozente werden spitzen Freudenschreien aus allen Bueros quittiert und aus den Buero der Kollegen O. ist ein Geraeusch zu vernehmen, das verdaechtig nach dem Knallen eines Sektkorkens klingt. Ich hoere sogar, wie der Kollege Rinzling seine keimdicht versiegelte Buerotuere aufbricht und erstaunlich fetzig ueber den Gang hinueber ins Sekretariat humpelt. Merkwuerdig, heute morgen hiess es noch, er koennen wegen eines akuten Gichtanfalls keinen Zeh mehr ruehren ...
Ploetzlich steht der Kollege O. in der Tuere, unter dem Arm eine riesige Magnum-Sektflasche.
"Leisch!" bruellt er und schwenkt heftig sein randvolles Sektglas, so dass ein nicht unerheblicher Teil in meinen offenen 1000GB-RAID-Server spritzt. "Leisch, du wirst es nicht glauben ...!"
Komisch, ich glaube es tatsaechlich nicht.
"Leisch! Die Soundso-Aktie ist in der letzten halben Stunde um 24% gestiegen! Und ich halte 300 Stueck!" Er bricht in irres Lachen aus wie eine Tuepfel-Hyaene, die einen verunglueckten Leichentransporter sichtet.
Ich mache den Kollegen O. saeuerlich darauf aufmerksam, dass sich empfindliche Speichertechnologie und billiger Sekt schlecht vertragen, aber er hoert mich gar nicht zu Ende und eilt weiter in Richtung Sekretariat, wo man Rinzlings Stimme in den hoechsten Fisteltoenen seine ploetzlichen Boersengewinne schildern hoert. Na wartet!

Im Laufe der naechsten Stunde lege noch ein wenig nach, bis die Soundso-Aktie 256% ueber ihren Anfangswert steht. Der LEERstuhl aehnelt inzwischen mehr einer ausufernden Teenager-Party als einer serioesen Bildungseinrichtung:
Yogi Flop hat den Hoersaal-Lautsprecher auf den Gang geschleppt und laesst mit voller Lautstaerke die neuesten Hits von ACDC laufen; auf dem Gang tanzen halb entbloeste Studentinnen (mit kleinem 'i'!); jeder verfuegt ploetzlich ueber grosszuegig ausgelegte Gefaesse mit alkoholischem Inhalt (ich frage mich allmaehlich, wo die Kollegen normalerweise den ganzen Stoff bunkern; muss ich bei Gelegenheit mal eruieren); Frau Bezelmann fuehrt mit geschuerztem Rock eine Stepptanzeinlage vor; der Hausmeister,
der Hilfshausmeister und der Gehilfe des Hilfshausmeisters treffen mit vier Bierkaesten ein und werden begeistert in Empfang genommen; der Kollege Rinzling - wahrscheinlich um zu zeigen, dass es mit seiner Gicht ploetzlich viel besser geht - balanciert mit der linken Ferse auf einer leeren Magnumflasche, die auf einem umgedrehten Muelleimer
steht, und macht mit beiden Armen harmonische Fluegelbewegungen; Doro, die super-doofe Dogge des Hausmeisters versucht freundschaftlich, mitten im Gang den Raben Nero zu begatten; Jenny und ein paar knackige Studenten (ohne 'i'!) verwandeln mit Hilfe von ein paar Feuerloeschern den Konferenzraum in eine ausgelassene Schaumparty.

Ich beteilige mich fleissig am freien Alkoholkonsum, umso mehr, da ich als Einziger weiss, wie die Geschichte weitergeht. Kurz bevor die Dichte der weissen Maeuse kritische Werte annimmt, und bevor es eine der wild gewordenen Studentinnen schafft, mich ins Starkstrompraktikum abzuschleppen, rette ich mich torkelnd in mein Allerheiligstes und lasse die Aktienkurse rapide ins Bodenlose fallen. (Im Starkstrompraktikum steht ein behoerdlich vorgeschriebene Ruheliege fuer Notfaelle; im Moment ist die wahrscheinlich pausenlos belegt!)
Logischerweise dauert es ein paar Minuten, bis da draussen jemand die Katastrophe bemerkt. Ich mische mich unauffaellig wieder unter das Party-Volk, damit ich spaeter ein Alibi habe. Ploetzlich ein spitzer Schrei: Marianne hat zufaellig in O.s Workstation geschaut. Nach einer sehr langen Schrecksekunde hebt lautes Heulen und Zaehneklappern an.
"Das darf doch nicht wahr sein ... das darf doch nicht wahr sein ...", stottert der Kollege O. fassungslos.

Ich muss mich schwer beherrschen, dass ich nicht laut loslache.

"Was hast DU denn?" fragt Marianne ploetzlich und fixiert mich mit misstrauischem Blick. "Dein Gesicht zuckt so komisch!"
Ah-oh! Jetzt bloss keinen Fehler machen! Marianne hat hier sicher irgendwo ihren verdammten Posaunenkasten deponiert, mit dem sie mich immer zu verpruegeln pflegt, wenn ich an ihrer Mailbox 'rummache.
Ich reisse mit grossartiger Geste ein Buendel uralter Reisekostenabrechnungen aus meiner Innentasche und zerknuelle sie mit theatralisch erhobener Hand.
"Meine Soundso-Aktien", erklaere ich mit erstickter Stimme, "die kann ich mir jetzt verreiben!"
Damit zerfetze ich die Papiere in winzige Fitzel, bevor Marianne irgendwelche naehere Untersuchungen anstellen kann, und werfe sie dramatisch ueber die Schulter.

Dummerweise steht genau hinter mir der Chef, der jetzt gerade erst ins Institut kommt und erstaunt feststellen muss, dass sein LEERstuhl so aussieht, als ob ein Bataillon australischer Oktoberfestgaenger durchgestuermt waere. Natuerlich (und nach Murphy) bekommt er die Ladung Papierfitzel mitten ins Gesicht.
Bevor er auch nur "... aeh ..." sagen kann, bricht am anderen Ende des Ganges beim Sekretariat Tumult aus. Jenny schreit verzweifelt um Hilfe, weil sich der Kollege Rinzling nicht mehr ruehre. Normalerweise wuerde diese Nachricht niemandem am LEERstuhl auch nur ein muedes Ohrenzucken entlocken - vom Kollegen Rinzling ist man schliesslich inzwischen Einiges gewohnt -, aber unter den zugegeben etwas ungewoehnlichen Umstaenden ...?
Tatsache ist, dass der Kollege Rinzling stocksteif wie eine Salzsaeule im Sekretariat steht, mit ausgestrecktem Arm auf Frau Bezelmanns 22''-Bildschirm deutet, auf dem sich uebergross der fatale Kursabsturz abzeichnet. Das waere ja an und fuer sich noch nicht so besorgniserregend, waere da nicht noch die Tatsache, dass sein Gesicht aussieht wie nach dem Angriff der Lila-Filzstift-Wesen, und er scheinbar jegliche Respiration eingestellt hat.
Nach ein paar energischen Schubsern von Frau Bezelmann (zwei schwarze Guertel!) bequemt sich Rinzling wenigstens dazu, seine Atmung wieder aufzunehmen (Pech!), und jammert gleich nach dem ersten Atemzug abwechselnd seinen verlorenen Aktiengewinnen hinterher und wegen heftiger Schmerzen in der linken Brust.

Und weil dann natuerlich doch noch herauskam, dass es die Hausse und Baisse nur an unserem LEERstuhl gegeben hatte, darf ich jetzt den Kollegen Rinzling im Park herumkutschieren! Als ob ich nichts Besseres zu tun haette!
Gluecklicherweise ist es wenigstens nicht anstrengend; Rinzling legt keinen Wert auf Geschwindigkeit. Im Gegenteil laesst er mich bei der weggeworfenenen Zigarettenkippe anhalten und stellt direkt daneben ein kleines Pappschildschild auf.
Auf dem Pappschild steht:

"Lieber Raucher. Das Nikotin in dieser weggeworfenen Kippe wird eine Tonne Trinkwasser fuer immer vergiften. Ich hoffe, dass Du wenigstens einen Teil davon abbekommen wirst. Aber bei meinem Pech werde ICH wahrscheinlich den groesseren Teil davon trinken.
Deshalb: F*** DICH INS KNIE, DU A*****!

Nach der zwoelften Zigarettenkippe frage ich den Kollegen Rinzling hoffnungsvoll, ob es vielleicht moeglich sei, dass sich meine Anwesenheit mit der Zeit negativ auf seinen Charakter auswirke. Der Kollege Rinzling ueberlegt einen Moment, dann muemmelt er grimmig unter seiner SARS-Maske:
"Kann schon sein. Ich hab' aber nix dagegen!"

Copyright Florian Schiel 2003

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