Ich bin im Sekretariat um meine Post abzuholen, und stehe wieder mal vor Frau Bezelmanns Kaktus-Post-Monster, einer Mischung aus Laokoon-Gruppe und erstarrtem Stachelschwein. Seitdem sie die Post nicht mehr wie normale Sekretärinnen in die Postfächer legt, sondern auf den Kaktus spiesst, laufen alle Mitarbeiter ständig mit durchgebluteten Pflastern an den Händen herum. Besucher erblicken manchmal die gelöcherte Korrespondenz auf den Schreibtischen und denken, dass wir ein neues geniales Ablagesystem basierend auf komplizierten Lochmustern erfunden haben. Hah!
Seitdem ich Frau Bezelmann meine unsterbliche Liebe zu einer SGI Workstation gestanden habe, hängt meine Post noch tiefer in dem Stachelverhau als früher. Ich frage mich zum Hundersten Male, wie zum Teufel sie die Post da hinein bekommt?
Hinter mir krächzt es höhnisch. Ich drehe mich um, und Nero, Bezelmanns kahler Rabe, betrachtet mich kalt mit seinen giftigen gelben Augen.
Natürlich! Der Rabe! Sie schickt den Raben in den tödlichen Urwald, und der heftet dann die Post an Stellen, wo man mit dem Arm nicht hinkommt.
Daher auch die ständigen Schnabelabdrücke auf meiner Post!
Während ich noch mit der langen Papierschere versuche, wenigstens meine Lohnabrechnung aus der grünen Stachel-Hölle zu bekommen, kommt Frau Bezelmann lautlos ins Büro und erschreckt mich mit einem zufriedenen Räuspern. Ich zucke zusammen, mache eine klitzekleine falsche Bewegung und - habe sofort 12 Stacheln im Unterarm. Wütend sauge ich an den spritzenden Wunden und gehe in Gedanken all die Schrecklichkeiten durch, die ich in 10 Minuten mit Frau Bezelmanns Macintosh anstellen werde, da hält sie mir einen dicken Umschlag vom Rechenzentrum unter die Nase und zieht hämisch die Mundwinkel nach unten. Der Umschlag ist - wie immer - bereits offen, weil Frau Bezelmann grundsätzlich in jede Geschäftskorrespondenz hineinschaut. Wenn man sie deswegen zur Rede stellt, meint sie mit eisiger Stimme, dass sie sich lediglich im Adressaten geirrt habe.
"Das wird in den nächsten Stunden für Beschäftigung sorgen", säuselt sie genüsslich und fächelt mir mit dem Umschlag Luft zu.
Ich betrachte den Umschlag misstrauisch. Das Ding schaut tatsächlich nach Arbeit aus, es riecht nach Arbeit und ausserdem - damit auch gewiss keine Missverständnisse auftreten - hat jemand einen riesigen roten Stempel mit der Aufschrift 'DRINGEND! SOFORT BEARBEITEN!' quer über die Adresse gehauen.
"Können Sie das Ding nicht zu den anderen Postsachen in ihren fleischfressenden Seeigel da stopfen?" schlage ich vor.
Frau Bezelmann zieht in gespieltem Erstaunen die Augenbrauen nach oben. "Aber wo Sie doch schon hier sind? Warum soll ich Ihnen die Mühe machen, es da wieder herauszubekommen..."
Sie stopft mir den Umschlag in die Jackentasche, und ich ziehe mich in die Sicherheit meines Büros zurück.
Der Umschlag enthält eine schriftliche, dreimal gestempelte, viermal gegengezeichnete, ultimative Aufforderung an mich, einen Teil unserer Internet-Adressen an die evangelischen Theologen abzutreten. Und noch dazu für Windoofs-Rechner! Ich erinnere mich dunkel an eine endlose Serie von emails des Netzwerk-Verantwortlichen während der letzten Monate. Natürlich landen solche emails bei mir ungelesen sofort im '/dev/null'!
Sorgfältig gehe ich das Dokument Wort für Wort nochmal durch, ob sich nicht irgendwo ein Schlupfloch bietet. Keine Chance! Die Anweisung ist eindeutig und unmissverständlich. Zähneknirschend ändere ich die Name-Server-Konfiguration. Dann warte ich bis es Zeit zum Mittagessen ist und mache mich auf die Socken, die einzelnen Rechner umzukonfigurieren und anzuschliessen.
Bei fünf theologischen Büros stehe ich erwartungsgemäss vor verschlossenen Türen. Ich klebe gelbe Zettel an die Türrahmen, die so kryptisch und verschlüsselt formuliert sind, dass ein Durchschnitts-Theologe sie entweder kopfschüttelnd in den Papierkorb wirft oder darüber seinen Glauben verliert.
Das sechste Büro ist bewohnt. Ein magerer Jüngling mit Flaumbart um die sanft lächelnden Lippen und dem typischen entrückten Blick der Auserwählten in den glänzenden Augen öffnet mir. Wahrscheinlich ist er vom vielen Meditieren magersüchtig geworden und geht deshalb nicht zum Mittagessen wie die anderen. Ich schliesse seine Kiste ans Netz an und vergesse nicht, auch das Mikro zu aktivieren. Wenn ich schon meine kostbaren IP-Adressen abgeben muss, möchte ich ja auch was davon haben!
Der Theo hat sich schon längst wieder in seinen fetten Wälzer vertieft und kümmert sich nicht um mich. In aller Ruhe hole ich mir über das Netz ein Bild der heiligen Jungfrau von Guadalupe und baue ein bewegtes GIF, das den normalen langweiligen Windoofs-Hintergrund zeigt und in dem alle dreieinhalb Stunden für fünf Sekunden schemenhaft die Jungfrau erscheint und wieder verschwindet.
"Und?" frage ich beiläufig den Theo. "Irgendwelche Wunder oder Visionen in der letzten Zeit?"
Der Jungtheologe schreckt aus seinem Wälzer hoch.
"Äh... wie meinen Sie...?"
"Wunder", wiederhole ich, "Sie wissen doch was ein Wunder ist, oder? Wenn zum Beispiel diese Windoofs-Kiste da den ganzen Tag läuft, ohne abzustürzen."
Der Theo lächelt sanft und nachsichtig, und bestätigt, dass ihm Wunder aus der einschlägigen Literatur durchaus bekannt seien.
"Na und? Haben Sie auch mal...?" frage ich.
Aber er schüttelt bedauernd den Kopf.
"Ich bin evangelisch", sagt er entschuldigend, als ob damit alles klar wäre.
"Aha", sage ich und warte 20 Sekunden. Dann sage ich:
"Was hat denn das damit zu tun?"
Der Theo lächelt wieder und guckt mich an wie ein kleines Kind, dem man zum ersten Mal vom Osterhasen erzählt hat.
"Nun ja", meint er und streicht sich seinen schütteren Ziegenbart, "wie Sie vielleicht wissen, tauchen oder vielmehr tauchten Wunder fast immer nur in katholischen Kirchen oder in Verbindung mit katholischen Heiligenfiguren auf..."
Beim Wort 'katholisch' fletscht der der Theo immer ganz kurz die Zähne.
Apart.
So ähnlich wie Altkundeskanzler Helmut Schmidt immer beim Wort 'CDU/CSU' zweimal die Zähne gebleckt hat.
"... die Evangelischen sind da etwas nüchterner, fürchte ich..."
"Das heisst also", sage ich, "Sie glauben nicht an Wunder."
"Ich? Ich glaube nur an die Wunder unseres Herrn", sagt er altklug, ganz wie aus dem calvinistischen Katechismus. Damit versenkt er sich wieder in sein Buch.
Na warte, denke ich und installiere das bewegte Jungfrauenbild als Hintergrund auf dem Rechner des Theo. Ausserdem lege ich einen Semaphore an, der das Bild nach den zehnten Erscheinen automatisch von der Festplatte löscht.
Eine Woche lang scanne ich regelmässig die einschlägigen katholisch- konservativen Webseiten nach einer sensationellen Marienerscheinung. Nichts.
Zwei Wochen später mache ich einen 'Kontrollgang' und komme zufällig wieder in das Büro des Theo.
Diesmal hat er kein Buch auf dem Schoss, sondern sitzt in verkrampfter Haltung zusammengeduckt vor dem Display des Windoofs-Rechners. Seine Nasenspitze ist weiss vor Anspannung und nur wenige Zentimeter von der Bildröhre entfernt. Der Asketenbart ist deutlich länger geworden und sträubt sich knisternd in der statischen Elektrizität des Displays. Sein penetrantes Pastorenlächeln ist einen verkniffenen Gesichtsausdruck mit fest zusammengepressten Lippen gewichen.
"Äh... hallo...", sage ich probeweise. Keine Reaktion. Nicht mal die rot geäderten und weit aufgerissenen Augen haben gezuckt.
Aha, denke ich befriedigt, AHA! Was so 'ne klitzekleine Vision doch alles bewirken kann. Er schaut schon viel menschlicher aus. Gallopierendes Ave-Maria-Syndrom im Endstadium; ich wette in spätestens zwei Wochen ist konvertiert und arbeitet als Fremdenführer in Lourdes; fühlt sich schon als männliche Bernadette, was?
Aber irgendetwas irritiert mich an der Szene; da stört doch ein Klappern die beschauliche Stille?
Tatsächlich! Der Theo ist nicht vollständig in vergeistigte Erstarrung gefallen. Er macht irgendetwas mit der rechten Hand.
Wahrscheinlich hat er sich schon einen Rosenkranz besorgt, denke ich und umkreise den Schreibtisch, damit ich besser sehen kann.
Aber der Theo lässt keine Perlen durch die Finger gleiten, er hackt hektisch auf die Cursortasten.
Ich gucke aufs Display und sehe - TETRIS! Score 67987!
© Copyright Florian Schiel 1998
Vision, Postkaktus
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