Man wird alt.

Nicht dass man es mir schon ansehen würde; ein 'Bastard from Hell' wird erst nach ein paar Tausend Jahren grau. Meine grauen Haarsträhnen haben rein berufliche Gründe: graue Schläfen wirken vertrauenserweckend auf StudentInnen.

Aber der Job ist so nervenaufreibend, dass es einfach an die Substanz geht!

Zum Beispiel heute morgen. Nach nicht mal 6 Stunden in SadoVixensIII++ fühle ich schon wieder dieses unangenehme Ziehen auf dem Handrücken und im rechten Unterarm. Eine Weile feuere ich mit dem Ringfinger weiter, aber erstens verlangsamt das meine Reaktionszeiten beträchtlich und zweitens wird das Ziehen davon auch nicht besser.
Als ich das vierte Mal von der gleichen Gruppe unternehmungslustiger Jung-Zombies gevierteilt, in teelöffelkleine Fetzen zerrissen und verspeist worden bin, gebe ich es erstmal auf und krempele meinen rechten Hemdsärmel hoch.
Auf der Innenseite des Unterarms sind zwei breite dunkelblaue Flecken, offensichtlich Abdrücke von der Tischkante. Was mich mehr beunruhigt sind drei lange rote Streifen, die vom Handgelenk bis zum Ellenbogen reichen; sie sind heiss, extrem schmerzempfindlich und wechseln die Tönung wenn ich meinen Killerfinger krümme.
Ich hole eine Flasche Brut aus dem Kühlschrank und presse das eiskalte, dunkelgrüne Glas auf die roten Streifen. Das tut gut. Ausgerechnet in diesem Moment kommt Frau Bezelmann mit einer löchrigen Aldi-Plastiktüte voller Tagespost an meiner offenen Türe vorbei.

(Die Aldi-Tüte ist so löchrig, dass ich ohne Probleme meinen Namen auf den obersten Umschlag erkennen kann. Frau Bezelmann bedient sich dieses scheinbar ungeeigneten Transportmediums in der nicht unbegründeten Hoffnung, dass sich der Umfang der Tagespost auf dem langen Weg von der Poststelle bis in den LEERstuhl etwas reduzieren könnte, und sie dann nicht soviel einsortieren braucht.)

Frau Bezelmann erblickt die Schampus-Flasche an meinem Unterarm und bleibt ruckartig stehen.
"Was machen Sie denn da?!"
"Nichts", sage ich.
Taktischer Fehler: Nichts reizt den weiblichen Intellekt mehr als das Wörtchen 'Nichts'. Frau Bezelmann stellt die Aldi-Tüte im Gang ab (vielleicht kommt ja irgendein Idiot und klaut sie?) und betritt energischen Schrittes und mit drohend herabgezogenen Mundwinkeln mein Heiligstes.
"Hat man vielleicht ein Wehwehchen an den Unterarmsehnchen?" flötet sie mit lüsterner Stimme.
Zu spät fällt mir siedendheiss ein, dass der Chef Frau Bezelmann im letzten Monat zur 'Gesundheitsbeauftragten' des LEERstuhls ernannt hat. Und noch dazu auf meine Empfehlung hin, weil er zunächst mich für den Posten vorgesehen hatte. Damit ist sie nunmehr in fünffacher Weise 'beauftragt':
Gesundheitsbeauftragte, Ausländerbeauftragte, Frauenbeauftragte (natürlich!), Drogenbeauftragte und Beauftragte für gesundes Raumklima.
Daneben sitzt sie im Personalrat, ist gewählte Senatsvertreterin des nicht-wissenschaftlichen Personals, beratendes Mitglied des Mensabeirats im Studentenwerk, sowie Vorsitzende der Privatinitiative 'Freie Waffenscheine für Sekretärinnen'.

Ich tue so, als ob ich nur das edle, rot-weisse Label auf der Flasche bewundern würde, und frage ablenkend nach der Post.
Aber Frau Bezelmann hat Blut geleckt und lässt sich nicht so leicht wieder abschütteln.
"Sie haben RSI, Repetitive Stress Injury! Ich werde sofort einen Termin beim Vertrauensarzt für Sie ausmachen!" sagt sie streng, als sie die dunkelroten, pulsierenden Streifen zu Gesicht bekommt.
Alle Proteste und Drohungen meinerseits fruchten nichts. Nicht mal als ich, um zu demonstrieren, wie beweglich der Arm doch sei, die Aldi-Tüte mit der Hauspost mit elegantem Schwung aus dem Fenster schleudere.
Fünf Minuten später schickt sie mir eine Mail mit den Termin: noch heute nachmittag um zwei solle ich mich in der Praxis 'Dr. Fraktura und Partner' einfinden. Weigerung zwecklos.

Pünktlich um 10 vor 2 betrete ich die modernen Praxisräume von Dr. Fraktura & Co in der Innenstadt und werde sofort von einer sexy aufgemachten aber schnippischen Praxisgehilfin zu den anderen Opfern ins Wartezimmer geschickt. Das Wartezimmer hat die Einrichtung und den Charme einer mittelalterlichen Nürnberger Folterkammer, und die restlichen Anwesenden schauen alle so aus, als ob sie auch irgendwo aus der Zeit stammten.

Bevor ich mich noch richtig der hohen intellektuellen Herausforderung von 'Reader's Digest Band 7896' hingeben kann, steht die heisse Praxisbraut schon wieder in der Türe und schleppt mich ins Labor ab. Von hinten sieht man, dass sie keinen BH unter ihrem unschuldig weissen Praxiskittel trägt. Ich sitze kaum wieder, da nähert sie sich schon mit einer lebensgefährlich grossen Spritze und erklärt so vertrauenserweckend wie Lucrezia Borgia, dass sie mir jetzt 'ein ganz kleines bisschen Blut' abnehmen werde.
Ich will ihr noch sagen, dass ich aber kein Blut sehen könne, da hat sie mir die Kanüle schon bis zum Anschlag in eine fette Vene am Unterarm gerammt! Direkt in einen der dunkelroten Streifen hinein! Ich schnappe unauffällig nach Luft und versuche trotz meines grünen Gesicht männlich gelassen zu wirken. Gleichzeitig tropft mir der Schweiss aus den Augenbrauen und das Blut spritzt aus der Kanüle in den durchsichtigen Glaskolben.
Die Praxisbraut beugt sich noch etwas mehr über mich, als versuche sie, mich durch einen bessere Aussicht auf ihre wohlgerundete Hügellandschaft zu beruhigen, aber das hilft jetzt auch nix mehr.
"Das hat uns doch nicht weh getan?" erkundigt sie sich scheinheilig und guckt mich forschend mit ihren grünen Augen an.
Ich sage mühsam, davon könne keine Rede sein, und versuche krampfhaft an etwas Angenehmes, zum Beispiel meine neue SGI im Büro, zu denken. Sie lächelt wieder sardonisch und zerrt etwas energischer am Kolben der riesigen Spritze, um noch den letzten Tropfen Blut aus mir herauszuholen. Ich schaue diskret, ob die Lady vielleicht vergrösserte Eckzähne hat, als es mir plötzlich so klar wird wie ein 21-Zoll-Schirm nach dem Entmagnetisieren:
Vor mir steht niemand anderes als 'The Bastard Nurse from Hell' (BNfH)! Leibhaftig und zum Schlimmsten bereit!
Mit einem Ruck, der jedem siegreichen Säbelfechter im Dreissigjährigen Krieg gut angestanden hätte, rupft sie die Kanüle aus meiner geschändeten Vene. Während ich meine sprudelnde Wunde mit einen Tupfer zuhalten darf ("Drücken Sie mal kurz hiermit drauf!") verfluche ich in Gedanken Frau Bezelmann ein paar Tausend Male.

"Nur keine Müdigkeit vorschützen", scheucht mich die BNfH gleich wieder auf, "jetzt zum Dauer-EKG!"
Durch den weissen Praxiskittel kann ich nicht erkennen, ob sie eine Bastard-Erkennungsmarke um den Hals trägt;
ich habe dummerweise meine aus Sicherheitsgründen zu Hause gelassen. Bevor ich aber noch behutsam das Thema darauf bringen kann, hat sie mich schon in einen Raum gelotst, in dem mehrere moderne Versionen der Folter-Geräte aus SadoVixensIII++ herumlungern, und verlangt, dass ich mich 'frei mache' und auf einer Art Kreuzung von Fahrrad und Computer Platz nehme. Ich gehorche ausnahmsweise schweigend, und sie verkabelt mich mit geübten Griffen, wobei sie jede einzelne pieksende Elektrode zur Sicherheit nochmal nachzurrt und dabei sardonisch lächelt, wenn ich scharf die Luft zwischen den Zähnen einziehe. Sie erklärt, was während der nächsten halben Stunde von mir erwartet wird, stellt das Ding auf maximalen Widerstand ein und lässt mich auf dem lächerlichen Strampelapparat allein.

Ich trete gehorsam für eineinhalb Minuten, dann wird es mir zu anstrengend. Ich gehe in das Herz-Monitor-Kontroll-Programm des angeschlossenen PCs, kopiere meine bisherige EKG-Aufzeichung zwanzigmal und hänge alle Kopien hintereinander.
Da ich ja jetzt viel Zeit übrig habe, beschäftige ich mich ein wenig mit dem PC in der Ecke. Schon bald wird klar, dass es sich hier um eine dieser Praxen handelt, wo ein geschickter Vertreter für Netzware und Abrechnungssoftware bis zum Geht-Nicht-Mehr zugeschlagen hat. Alle Behandlungsräume sind vernetzt, alle Patientendaten von jedem Terminal abrufbar (natürlich ohne Passwort), sogar die meisten Labor-Geräte sind online angeschlossen. In den Personal-Dateien finde ich sogar ein paar GIFs der BNfH - alle mit dem gleichen sardonischen Lächeln, mit dem sie wahrscheinlich immer ihre Kanülen und Katheder einführt.

Nur so ganz automatisch verschiebe ich sämtliche eingetragenen Patiententermine nächste Woche um zweiundvierzig Stunden nach vorne, schreibe jeweils für die Patienten Karl Wocsefski, Anton Bärlamm und Gerhard Klober eine Überweisung an den Gynäkologen aus und ändere das Überstundenkonto der BNfH von 833 auf 38.
Im Ultraschall-Gerät fummele ich ein wenig am Bildspeicher und der Verarbeitungssoftware herum, und im Röntgen erhöhe ich die Anodenspannung der Gamma-Kanone auf den Wert 'STERILIZE'.
Ich überlege gerade, ob ich noch einen Macro-Virus im kassenärztlichen Abrechnungssystem einpflanzen soll, der in sämtlichen Rechnungen vor dem Ausdrucken automatisch den Endbetrag um eine Stelle nach unten korrigiert, als plötzlich eines der angeschlossenen Geräte im Netz aktiv wird. Interessiert beobachte ich, wie ein vollautomatisches Analyse-Gerät meine Blutwerte ins Netz einspeist...

Kurz darauf kommt die BNfH und befreit mich von den Kabeln. Nach einigen weiteren mehr oder weniger unfreiwilligen Spendenaktionen, die ich lieber nicht so genau schildern möchte, bekomme ich endlich auch mal einen Doktor zu Gesicht. Er guckt sich gerade kurzsichtig die Langzeit-EKG-Streifen an, als ich hereinkomme.
"Sehr schön", murmelt er und benutzt seine Brille als Lupe, "ganz erstaunlich. Sie müssen ein sorgfältig durchtrainierter Sportler sein, wenn ihr Herz so regelmässig schlägt. Na, schauen wir mal..."
Ich muss mich auf eine harte Liege flachlegen und er rollt das Ultraschall-Gerät so heran, dass ich auch was sehen kann. Zunächst passiert nichts Aussergewöhnliches, ausser dass der Doc leise lateinische Vokabeln brabbelt, während er sich durch die Fettschicht zu meiner Leber vorarbeitet. Mitten in einem sehr schön gelungenen Scan durch meine Gallenblase erscheint plötzlich kurz das sardonische Lächeln der BNfH auf dem Display, halb verdeckt von den mächtigen Leberlappen, und verschwindet wieder. Der Doc lässt vor Schreck den teueren Ultraschallkopf auf den Boden fallen und schnappt nach Luft.
"Haben Sie das auch gesehen?!"
Ich beteuere, dass mir nichts aufgefallen sei, und frage sehr besorgt, was er denn da Schreckliches gesehen habe.
"Nichts, nichts. Kein Grund zur Beunruhigung", sagt der Doc wenig überzeugend und setzt den Scanner wieder in Betrieb.
Das nächste Mal erscheint das Konterfei der BNfH blitzartig in der linken Herzkammer. Wie romantisch, denke ich und versichere auf erneute Anfrage laut, dass ich absolut kein Gesicht oder so was gesehen habe; und was denn um Gottes Willen da in mir drin sei.
Der Doc wischt sich den Schweiss mit einem Tupfer von der Stirne und merkt zu spät, dass der Tupfer voll mit Gleitcreme war. Dann meint er, wir sollten die Untersuchung lieber ein andermal zu Ende machen.
"Doktor", sage ich mit zitternder Stimme, "sagen Sie mir die Wahrheit!" Der Doc beteuert, dass sich alles aufklären würde, und fühlt heimlich seinen eigenen Puls.
"Wenn ein Arzt sagt, es werde sich alles aufklären", sage ich mit dumpfer Stimme, "heisst das, ich stehe mit einem Bein im Grab, nicht wahr?"
"Nein, nein", versichert mir der Doktor und lockert mit dem rechten Finger seinen Kragen, "glauben Sie mir: ich bin es eher, der sich Sorgen machen sollte."

Ich ziehe mich gehorsam wieder an, und der Doc hat sich soweit gefangen, dass er einen Blick auf die Laborwerte werfen kann. Plötzlich stutzt er:
"Wussten Sie, dass Sie erhöhte Kolesterinwerte haben?"
Ich schüttele den Kopf, räume aber ein, dass ich heute zum Frühstück ein paar Eier zu mir genommen habe.
Der Doc starrt fassungslos auf den Computerausdruck:
"Ja, aber.... aber das sind ja Werte... das sind etwa fünfhundertmal mehr als normal. Mit solchen Werten kann kein Mensch überleben..."
Ich denke kurz nach und frage dann, ob es vielleicht an der Menge der konsumierten Eier liegen könne.
Der Doc schnaubt verächtlich:
"Na, wieviele Eier waren es denn?"
"456" sage ich, "so ungefähr..."
"Was??"
Ich erläutere dem Doc, dass ich von Kaviar-Eiern spreche. Er hört mir gar nicht zu, weil er inzwischen den 42%igen Alkohol-Anteil im Urin gefunden hat.
"Ausserdem haben Sie keine roten Blutkörperchen", fährt er fassungslos fort.
"Und alles andere stimmt auch nicht..."
"Tja, nach grünen haben Sie wohl nicht gesucht", sage ich.
"Wieso grünen?"
Ich seufze, wie wenn ich resignieren würde, und beuge mich vertraulich vor:
"Darf ich Sie an Ihre ärztliche Schweigepflicht erinnern?" flüstere ich und der Doc nickt stumm und beugt sich ebenfalls vor.
"Ich habe keine roten Blutkörperchen, weil ich vom Vulkan stamme. Die dortigen Bewohner haben grünes Blut..."
"Vom Vulkan", sagt er sanft, fast selig, und lächelt beruhigend, wie mit einem offensichtlichen Irren.
"Ja, das erklärt alles, nicht?" sage ich
"Natürlich, natürlich", beeilt er sich mir zuzustimmen. Jetzt ist er wieder ganz in gewohnten Fahrwassern. Zumindest glaubt er das. Dann fällt sein Blick zufällig auf den Labor-Bericht von ihm auf dem Schreibtisch und sein Lächeln gefriert zu einer Grimasse.
"Aber... aber...", stottert er.
"Ja", gebe ich zu, "das schaut seltsam aus, aber an sich sind das ganz normale Werte für einen Vulkanier. Und was Sie sich vorhin mit dem Ultraschall angeschaut haben, war übrigens nicht meine Leber sondern mein Kurzzeitgedächtnis. Die Vulkanier tragen einen grossen Teil ihres... äh... Gehirns im Abdomen. Da müssen sie beim Scannen ein paar gespeicherte Bilder durch Interferenz erwischt haben...
"Verstehe!" japste der Doc, während ihm der Schweiss in Bächen herunterläuft.
"Sie werden begreifen, dass es meine Mission empfindlich stören würde, wenn ich jetzt wegen eines dummen Zufalls enttarnt würde. Ich schlage vor, dass wir meinen Besuch bei Ihnen ganz einfach vergessen. Und Sie schreiben irgendetwas Unverbindlich-Harmloses in Ihren Untersuchungsbericht, nicht wahr?"
Der Doc ist mit allem einverstanden, wenn ich nur jetzt unauffällig gehen und niemals, das müsse ich ihm versprechen, niemals wieder in die Praxis kommen würde. Ich verspreche es grossherzig und verabschiede mich mit 'Friede und langes Leben!'.

"Und?" will Frau Bezelmann später gespannt wissen. "Was sagt der Doktor zu den komischen Streifen auf Ihrem Unterarm?"
"Nichts", sage ich wahrheitsgemäss. "Und alle meine Werte sind absolut top."
Frau Bezelmann schnaubt verächtlich.
"Ich wette", sagt sie streng, "Sie haben wieder irgend so eine naive Arzthelferin so lange eingewickelt, bis sie alle Ergebnisse zu Ihren Gunsten gefälscht hat."


© Copyright Florian Schiel 1998

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