Ich lösche gerade die ganze überflüssige User-Mail auf dem schnellen Server B, damit ich mehr Platz für meine DooM-Szenario-Dateien bekomme, als plötzlich jemand meine Tür aufreisst. Niemand würde es wagen, bei hochgefahrenen Schilden meine Tür aufzureissen; es kann also nur der Chef sein.
"Ah... äh... Leisch... hrrrm... gut... äh... dass Sie da sind! Ich möchte Sie mit Frau... ähm... Frau... na!... Frau Diplompsychologin Dr. Dürf bekanntmachen."
Der Chef zieht den Bauch ein und lässt eine abgehungerte, mindestens ein Meter fünfundachtzig grosse, künstlich angegraute Brünette vorbei in mein Büro. Auf ihrer Bluse schillert das ganze Farbspektrum wie in einem billigen Bildschirmschoner, und - trotz ihrer an sich schon beachtlichen Grösse - hat sie an den Schuhen Stilettos, für die jeder Mann einen Waffenschein vorweisen müsste. Auf dem künstlich gebräunten und sorgfältig gespachtelten Gesicht sitzt das professionelle 100-Watt-Osram-Lächeln, mit dem Zahnärzte uns immer versichern, es werde überhaupt gar nicht weh tun.
Frau Dürf setzt zum Sprechen an, aber der Chef hat schon wieder das Wort ergriffen:
"Ähm... ja... es handelt sich... hrrrm... oder vielmehr... äh... Sie kennen ja das neue 'Quality of Service' Programm, das... äh... QOS ist wohl die Abkürzung... das die Firma... hm... die Firma... Wie war der Name doch gleich? MacDonalds?"
"McKinsey."
"... McKinsey... äh... das die Firma McKinsey der Universität empfohlen hat... äh... ja. In diesem... äh... Programm gibt es auch ein... Dings... ein... hm..."
Der Chef schaut in eine Hochglanzbroschure, die er in der Hand hält.
"... ein 'Person-to-Person coaching, das Anreize zur Verbesserung der kommunikativen Akzeptanz der Angestellten schaffen soll'. Hmm... ja.
Jedenfalls hat der Hochschulrat beschlossen... äh... zunächst mal eine... hm... kleine Pilotstudie... ähm... anfertigen zu lassen. Hrrrm!
Ja, äh... und Frau... hm... Frau Dürf hier... oder vielmehr: wir dachten dabei an Sie...äh... ob Sie... ähm... "
Frau Dürf übernimmt elegant die freihängenden Fäden: "Ich soll mit Ihnen zusammen eine der geplanten Coaching-Sessions durchführen. Und Sie können dann in einem anschliessenden Assessment berichten, ob eine solche Massnahme zur Effizienzsteigerung und Verbesserung des Arbeitsklimas beiträgt."
Ich nicke langsam und düster.
"So. Aha", sage ich."Ich hoffe, es handelt sich um nicht-invasive Methoden. Bei der letzten solchen Aktion hat ein Kollege von Ihnen dazu geraten, mir die rechte Grosshirnhälfte zu entfernen."
Frau Dürf hat sich gut in der Gewalt. Nur die rechte Augenbraue zuckt ganz kurz. Dann strahlt sie wieder ihr Zahnarztlächeln ab. Jetzt allerdings mit 200 Watt.
"Haha!" lacht der Chef halbherzig. "Ha.... ja, äh... also... hrrrm... wie gesagt... am besten... und Sie kommen... äh... schauen dann nochmal... hm ... bei mir vorbei... äh...", und damit verlässt er fluchtartig mein Büro.
Frau Dürf und ich, wir gucken uns eine Sekunde lang an. Dann sage ich:
"Und? Wollen wir über meine verkorkste Kindheit sprechen? Wir haben leider keine Couch hier... "
"Es handelt sich nicht um eine Analyse", sagt Frau Dürf in milde tadelndem Ton."Wir werden uns einfach ganz entspannt unterhalten. Ab und zu werde ich eine Frage stellen, und Sie können Sie beantworten oder auch nicht. Wie Sie wollen..."
Ich nicke wieder düster.
"Wie wärs mit einen kleinen Spaziergang", versucht es Frau Dürf im herzlichsten Tonfall.
"Ok", sage ich und füge dann mit vorwurfsvollem Ton hinzu:
"Übrigens HATTE ich eine schwere Kindheit."
Wir treten hinaus auf die Strasse. Es nieselt, und ein vorbeifahrender Lastwagen erwischt uns beinahe mit einer Fontäne Dreckswasser.
"Reizend, ganz reizend", sage ich und wickele mich fester in meinen Mantel.
"Warum sagen Sie das so?" erkundigt sich Frau Dürf.
"Weil das Wetter eben beschissen ist. Sagte ich schon, dass ich eine schwere Kindheit hatte?"
"Was fällt Ihnen denn sonst noch so ein, wenn Sie an das schlechte Wetter denken?" fährt sie unbeirrt fort und stöckelt auf ihren Stilettos eifrig neben mir her.
"Hundekacke!"
"Wie bitte?"
"Vorsicht, da! Hundekacke! Jetzt sind Sie doch reingestiegen! Sie sollten besser achten, wo Sie hintreten. Das ist ein gefährliches Pflaster, hier um die Uni..."
Frau Dürf betrachtet umbekümmert die dicke Wurst auf ihrem Stiletto - und streift sie elegant am nächsten BILD-Zeitungs-Kasten ab.
Eigentlich doch ganz sympathisch, die Frau...
"Kommen Sie! Wir gehen in die Neue Pinakothek und schauen uns ein paar Bilder an", sagt sie und hängt sich bei mir ein.
"Können wir nicht lieber ins Lenbach gehen?" sage ich und mache vorsichtig meinen Arm wieder frei.
"Ins Lenbach-Haus, meinen Sie? Warum nicht? Da gibts auch jede Menge Bilder..."
"Ich meine nicht das Lenbach-HAUS, sondern DAS Lenbach, die abgefahrendste Hyper-Schicki-Micki-Super-In-Kneipe Münchens..."
Frau Dürf guckt interessiert.
"Gehen Sie da öfters hin? Trinken Sie regelmässig?"
"Nie!" schüttele ich den Kopf. "Obwohl ich eine sehr, sehr schwierige Kindheit...
"Aber warum gehen Sie dann in Kneipen?"
"Weil ich so gerne die ganzen halb- und voll-fertigen Neureichen und Lokalpolitiker beobachte, wie sie an der der Bar hängen, schlappe Konversation machen, ihre Lungen mit rauchverpesteter Luft verseuchen und sich trotzdem jeden Abend zu Tode langweilen... Ist Ihnen eigentlich schon mal aufgefallen, dass Lokalpolitik auch von 'Lokal' kommen könnte?"
"Was fällt Ihnen denn bei dem Wort 'Politiker' noch ein?" fragt Frau Dürf.
"Hundkacke!" sage ich.
Frau Dürf schaut automatisch nach unten.
"Nein", sage ich, "diesmal wirklich."
Bei der Neuen Pinakothek zahlt Frau Dürf beide Eintrittskarten, was ich sehr nobel von ihr finde, wenn man bedenkt, dass ihr Stundensatz bestimmt nicht mehr als 450 Mark beträgt.
Wir schlendern ziellos durch die ausgestorbenen Gänge. Falls ich wirklich mal vorhaben sollte, Selbstmord zu begehen, würde ich nochmal herkommen, um mich in die rechte Stimmung zu versetzen.
"Was halten Sie hiervon?" fragt Frau Dürf.
Ich betrachte das Werk ein paar Sekunden lang.
"Braun", sage ich dann.
"Braun? Sonst fällt Ihnen dazu nichts ein?!"
"Doch!" sage ich. "Hundeka..."
"Schon gut!" unterbricht Frau Dürf hastig. "Schauen wir uns was anderes an..."
Wir gehen in den ersten Stock hinauf. Eigentlich hatte ich gehofft, dass dort endlich das unvermeidliche Cafe mit angeschlossenem Souvenir-Stand zu finden sei. Aber statt dessen sind dort nochmal soviel Bilder wie im Erdgeschoss!
Ich bleibe vor einer Miniatur stehen. Sie zeigt eine abstrakte Version der Enthauptung von Jonny, dem Täufer. Frau Dürf ist sofort hinter mir und linst mir über die Schulter.
"Was gefällt Ihnen an dem Bild?"
"Es erinnert mich an meine Jugend."
"Wieso?"
"Naja, ich finde es ganz apart, wie die Herodias gleichzeitig lächeln und Jonnys Blut aus der Schüssel schlürfen kann...."
Frau Dürf guckt auf die abstrakte Pinselführung und reist die Augen auf.
"Und das Töchterchen scheint ja auch ganz schön ausgekocht zu sein für ihr Alter. Schauen Sie mal, wie das Luder den Kopf des armen John am rechten Ohr hochhält, und dabei noch lachen kann..."
"Aber...", protestiert Frau Dürf, "da sind doch nur rote und violette Striche und Punkte zu sehen!"
Ich zucke mit den Achseln. Soll ich ihr erklären, dass man halt das entsprechende Hintergrundwissen als 'Bastard from Hell' mitbringen muss?
"Und der arme alte Lustmolch, der Herodes Antipas, hat sich das wohl auch anders vorgestellt. Ganz grün ist er im Gesicht. Passen Sie auf, ich wette, er kotzt gleich dieser Lustsklavin in den Ausschnitt..."
"Ich glaube, wir sollten lieber einen Kaffee trinken gehen", sagt Frau Dürf, auch schon etwas bleich um die Nase.
"Sind Sie eigentlich mit Ihrem Beruf zufrieden?" Frau Dürf hat sich wieder etwas gefangen.
"Doch, ich denke schon" sage ich düster. "Er ist auf jeden Fall besser als der letzte. Finden Sie nicht auch, dass der Kaffee ein bisschen nach durchgegorener Jauche schmeckt?"
Frau Dürf schiebt ihre Tasse zwei Zentimeter von sich weg und fragt natürlich:
"Was war denn ihr letzter Job?"
"Engel vierter Klasse auf dem Linienflug New York - London. Habe ich schon erwähnt, dass ich eine Zangengeburt war?"
Frau Dürf Schaut lässt sich nicht ablenken:
"Sie meinen, Sie waren Flugbegleiter?"
"So kann man es auch nennen. Um auf meine Zangengeburt zurückzukommen..."
"Aber wieso ist das ein schlechter Beruf?" will Frau Dürf wissen.
"Ich habe damals noch für die falsche Seite gearbeitet", erkläre ich. "Das war natürlich todlangweilig. Und dann praktisch keine Aussichten auf eine Karriere."
Ich beuge mich vertraulich vor:
"Wissen Sie - mal abgesehen von meiner Zangengeburt - wissen Sie wie lange es dauert, bis man vom Engel vierter Klasse zum Engel dritter Klasse aufsteigt?"
Frau Dürf schüttelt langsam den Kopf, ohne mich aus den Augen zu lassen.
Ihre Augenbraue zuckt wieder etwas.
"Zwischen 14 und 26 Millionen Jahre. Sehen Sie?"
"Hm... ja... ich denke doch. Hatten Sie eigentlich in letzter Zeit viel zu tun?"
Ich überlege ein paar Minuten angestrengt.
"Also, letzte Woche hatte ich Hundekacke an den Schuhen, und es hat mich eineinhalb Stunden gekostet, den Mist mit einer Zuckerzange wieder herauszukratzen!"
"Äh... ja", lächelt Frau Dürf etwas bröckelig. "Ich glaube wir sollten doch nochmal auf Ihre Kindheit zu sprechen kommen..."
"Genau", sage ich. "Hatten Sie eine?"
"Wie bitte?"
"Ich sagte: Hatten Sie eine Kindheit?"
"Ja, natürlich..."
"Sehen Sie! Ich hatte nur eine Zangengeburt!"
"Ich verstehe..."
"Und was für eine! Wollen Sie Einzelheiten wissen?"
"Ich glaube..."
"Es war eine Zuckerzange! Können Sie sich das vorstellen? Ich habe meinen Augen nicht getraut. Eine Zuckerzange..."
"Ich denke, wir sollten jetzt lieber wieder zurückgehen", meint Frau Dürf wage und zahlt freundlicherweise auch meinen Kaffee gleich mit.
Den Rückweg legen wir schweigend zurück und machen beide sorgfältige Bögen um die ganze Hundekacke, die nach der Schneeschmelze aufgetaut ist und jetzt in der warmen Frühlingssonne vor sich hindampft.
Zwei Wochen später bekomme ich eine unmissverständliche Aufforderung von der Personalstelle, endlich meinen Resturlaub vom letzten Jahr zu nehmen. Wenn ich wolle, könne ich auch mal in Kur gehen, steht noch darunter.
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Psychogram
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