Ich bin schon um neun Uhr in der Uni und schenke unserer Pförtnerin, Fräulein Schwengelreiter, ein strahlendes Lächeln. Am Lift stelle ich mich brav hinten an und lasse sogar einem alten gebrechlichen Studentlein (42. Semester Philosophie) den Vortritt.
Für Frau Bezelmann habe ich ihre Lieblings-Blume mitgebracht, eine süd-bolivianische Würger-Ortensie mit integrierten Pfeilgiftkapseln. Und für Marianne und den Kollegen O. habe ich frische Krapfen vom Bäcker dabei...
Was ist passiert? Hat sich der Bundesrechnungshof angekündigt? Ist dem BAfH eine Beförderung zum Ober-Engel, 3. Klasse in Aussicht gestellt worden? Hat er mit seinem miesen Charakter endgültig Schluss gemacht?? Sind unsere Universitäten etwa wieder sicher???
Die Antwort ist ganz einfach:
Heute ist Diplomvorprüfung! Ich liebe Prüfungen!
Prüfungen sind wie Sex ohne Verhütungsmittel: Aufregend, und der unangenehme Teil kommt später - beim Korrigieren.
Fröhlich vor mich hin pfeifend stehe ich am Kopierer und lasse die Vorlagen für die Klausur durchsausen. Damit die Sache für die Studenten etwas spannender wird, schalte ich den Sortierer auf 'Supermix' und hefte die Blätter fast in der Mitte zusammen, so dass die obere linke Ecke nicht mehr lesbar ist.
Hohlwangige Prüfungskandidaten schleichen grün im Gesicht an mir vorbei in Richtung Hörsaal und schielen nach den Prüfungsvorlagen. Um ihren Blutdruck auf vernünftige Werte zu bringen, ziehe ich die Stirn in Falten, gucke in die Klausurvorlage und murmele etwas von "...einfach komplexer Tensorbeziehung zwölften Grades in links-traversal transponierter Dreitorschaltung..."
Schlag neun Uhr fünfzehn betrete ich mit meinem Handwagen beschwingt den Hörsaal. Die vier Sanitäter, die ich vorsorglich bestellt habe, müssen vorerst noch draussen bleiben. 160 Prüfungskandidaten sitzen kerzengerade in den Bänken und schauen drein wie Sonntagsschüler, die den Katechismus vergessen haben. Sie haben sich sogar an meine Anweisung gehalten, nur jede zweite Reihe zu besetzen. Ich wuchte 20 Kilo Kopierpapier vom Handwagen aufs Katheder, dass es kracht. Nur die obersten 2 Kilo enthalten die tatsächlichen Angaben, aber das können die Opfer ja nicht wissen. Eine Studentin in der 4. Reihe bekommt beim Anblick der Papierstösse nervöse Zuckungen.
Dann erkläre ich, dass diesmal per Computer bestimmt wird, wer wo zu sitzen hat. Jeder Kandidat muss nach vorne kommen, sich mit Personalausweis, Daumenabdruck und Retina-Muster identifizieren, und bekommt dann eine Platznummer zugewiesen. Natürlich weist das Programm die Hälfte der Plätze doppelt zu, und mit all dem Chaos und den ohnehin schon kopflosen Studenten vergeht wieder eine halbe Stunde, bis jeder auf seinem Platz sitzt.
Dann verlese ich die Regeln:
"... erlaubte Hilfsmittel sind: alles ausser funkbetriebenen Kommunikationseinrichtungen, Rechengeräten mit mehr als 12 Byte Arbeitsspeicher und natürlich den vorder-, hinter-, links- und rechtsseitigem Nachbarn, und so weiter... hm... Arbeitszeit... naja, Sie sehen ja dann schon, wenn ich hungrig werde; dann können Sie mit einem baldigen Ende rechnen... haha..."
Niemand lacht; an Prüfungstagen verstehen die Studenten komischerweise überhaupt keinen Spass.
"... Unterschleif... blablabla... es genügt der Versuch... sofortige Beschlagnahmung - und für mindestens drei Tage Dunkelhaft..." Keine Reaktion. Inzwischen liegen bei den Studenten die Nerven schon so blank, dass sie auf akustische Reize kaum noch ansprechen.
Ich teile die Angaben aus, und die Meute stürzt sich darauf wie ein Rudel ausgehungerter Polarhunde auf eine drei Tage alte Leberkäsesemmel. Alle fangen sofort mit der Bearbeitung der 37 Fragen an; niemand achtet auf mich, wie ich in neuer Rekordzeit die Prüfung herunterleiere. Ganz zum Schluss sage ich:
"Und jetzt noch ein wichtiger Hinweis: die Prüfungsteile 2e,3c,6a, 7c, 8l, 11d, 13d, 13f, 17a, b und c und 27j werden nicht bewertet. Sie dienen nur dem Kontextverständnis der anderen Aufgaben. Sie können diese bei der Bearbeitung auch weglassen, wenn Ihnen die Zeit zu knapp sein sollte." 160 Köpfe gehen ruckartig nach oben, 160 blutunterlaufene Augenpaare starren mich aus fahlen Gesichtern an.
"Damit beginnt jetzt die Bearbeitungszeit", sage ich abschliessend fröhlich. Niemand hat mitbekommen, was ich zum Schluss gesagt hatte, weil alle schon mit der Prüfung angefangen hatten. Ein verzweifeltes Getuschel setzt schlagartig ein. Ich schiesse strafende Blicke in alle Ecken. Ein Student rafft allen seinen Mut zusammen und meldet sich:
"Äääh... ich finde das, was Sie da zum Schluss gesagt haben, aber nicht in der Prüfungsangabe..."
"Deshalb habe ich es ja extra gesagt. Haben Sie nicht aufgepasst?"
Der Student schrumpft zu einem grossen Schweissfleck zusammen. Die anderen ducken sich hinter ihren Taschenrechnern. Könnte man Angst und Verzweiflung sehen, wäre die Sicht in diesem Hörsaal zur Zeit etwas behindert.
Die Prüfung schreitet unerbittlich voran. Ich dagegen schreite gemessenen Schrittes durch den Hörsaal, in dem man eine Stecknadel fallen hören könnte, und suche gezielt die losen Parkettdielen, die an meisten knarzen. Dort bleibe ich dann sinnend stehen, starre an die Decke und wippe langsam zwischen Zehen und Ballen hin und her.
"...Knarzknarz! Knaaaaarrrrz! Knoooorz!..." tönt das Parkett, das auch mal froh ist, dass ihm jemand seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit schenkt.
Mit einem weichen Plumpser gleitet ein Student in der fünften Reihe ohnmächtig zu Boden. Oder zumindest scheint es so. Vielleicht will er sich auch nur krank schreiben lassen, um ein Durchfallen zu vermeiden. Ich winke die Sanitäter herein, die mit verschiedenen Tricks (Gänsefedern an den Fusssohlen, Nase zuhalten) prüfen, ob auch wirklich keine Simulation vorliegt, bevor sie den Studenten fachgerecht abtransportieren.
Gegen Ende der Prüfungszeit lichten sich die Reihen beträchtlich. Die vier Sanitäter fordern per Funk Unterstützung durch den Katastrophendienst an.
Ein Notarzt in orangefarbenem Overall geht kopfschüttelnd an mir vorbei und murmelt irgendetwas wie
"... jedes halbe Jahr dasselbe Theater..."
Ich merke mir sein Gesicht für später. Der Computer der kassenärtzlichen Vereinigung ist seit neuestem im Internet...
Schwer beladen mit Klausuren komme ich in mein Büro zurück. Die anderen Assistenten strecken die Köpfe aus ihren Büros und gucken verzweifelt auf den riesigen, zu korrigierenden Stapel Papier auf meinem Handwagen.
Plötzlich biegen völlig unerwartet der zweite Hilfshausmeister und der Hausmeistergehilfe ebenfalls mit einem Handwagen um die Ecke. Ich rufe noch eine Warnung und bringe mich in Sicherheit; die Hausmeister springen um Ihr Leben. Die beiden Gefährte krachen mitten im Flur zusammen, und ein schwappender Strom von Farben, Kloreinigungsflüssigkeit und anderen Putzmitteln ergiesst sich auf den Boden, auf dem die Klausuren herumflattern.
Die Assistenten in der Nähe brechen spontan in Jubelrufe aus, die Frau Bezelmann mit strengem Blick sofort wieder zum Schweigen bringt. Der zweite Hilfshausmeister, der Hausmeistergehilfe, Frau Bezelmann, der Kollege O. und ich, wir stehen da und betrachten schweigend das Malheur.
"Und was machen wir jetzt?" fragt der Kollege O. mit bleichem Gesicht.
"Sollen wir die Klausur etwa wiederholen?"
"Und mit welcher Begründung?" fährt Frau Bezelmann ihn an. "Wegen überdurchschnittlicher Blödheit bei den Uni-Angestellten?"
Wieder schweigen alle betreten. Ich schiele unauffällig zur Klappe des Müllschluckers hinüber. Kollege O. und Frau Bezelmann fangen meinen Blick auf und nicken in stillem Einverständnis.
17einhalb Minuten später sind mit tatkräftiger Unterstützung eines Dampfstrahlers der Hausmeister alle Spuren der Katastrophe restlos beseitigt. Frau Bezelmann sprüht zusätzlich noch mit Sagrotan über die Stelle. Als ich frage, was das bewirken solle, schnaubt sie nur verächtlich. Ich empfehle ihr, das nächste Mal Weihwasser zu bringen.
"Und was machen wir jetzt mit der Benotung?" fragt der Kollege O. bedrückt.
Ich zucke mit den Schultern und sage:
"Bei der letzten Klausur ist mir sowieso aufgefallen, dass die Anzahl der abgegebenen Seiten ziemlich gut mit der Endnote korreliert.
Regressionsfaktor von fast 0,88 oder so. Und die Anzahl der Seiten habe ich hier auf der Teilnehmerliste..."
Marianne starrt mich fassungslos an.
"Du meinst...?!"
Ich sag's ja auch immer wieder meinen Studenten: Was täten wir ohne die Statistik?
Später, als ich an einem Algorithmus knobele, der eine gute Gaussglocke in der Notenverteilung erzwingt, streckt der Chef seinen Kopf herein.
"Äh... ah... gut... ähm... was ich nur... äh... fragen wollte... hrrrm.... wie war eigentlich heute die... äh... Dings... ähm.. die Zwischenprüfung?"
"Alles wie gewöhnlich", sage ich und speichere die Notenverteilung ab.
"Übrigens sind wir bereits mit der Erstkorrektur fertig..."
"Ah... schon? Oh... äh.. sehr... ähm... sehr, sehr gute Arbeit, Leisch... hrrrm..."
Kurz bevor ich nach Hause gehe, bestelle ich beim Getränkemarkt um die Ecke die versprochenen vier Kästen Weissbier für die Hausmeister...
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