Wie? Eine Geschichte? Schon wieder? Tut mir sehr leid, aber...
Ich sehe, dass Schiel schon wieder sein Notebook aufklappt, aber heute muss ich ihn leider enttäuschen: Es ist einfach nichts passiert, was eine Geschichte wert wäre...
Wie bitte? Natürlich weiss ich, dass es Freitag ist! Ist das vielleicht mein Problem? MEINE Idee war das nicht, jede Woche kostenlos eine unbezahlbare Episode aus meinem einzigartigen Leben an Tausende schmarotzender Internet-Benutzer zu versenden. ICH würde pro Nase und Geschichte mindestens $$$ verlangen (Betrag aus moralischen Gründen von der Redaktion gestrichen).
Soso. Sie meinen, bei mir würde jede Woche etwas passieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihre Leser an langweiligen Wiederholungen interessiert sind. Das Leben besteht nunmal grösstenteils aus Routine.
Natürlich kann ich über meine übliche Arbeit erzählen, Emails der Studentinnen scannen (beachte: kleines 'i'!), Reisekostenabrechnungen fälschen, Geldgeber an der Nase herumführen, die Haustechnik auf Trab halten, etc. etc. Aber das ist doch alles alter Käse! Schnee von gestern! Kennt doch jeder bereits! Oder haben Ihre Leser ein so schlechtes Gedächtnis, dass sie über denselben Gag fünfmal lachen können?
Wie? Es kommen wöchentlich 5 bis 10 neue Leser auf die Liste? Na, dann sollen die doch erstmal die alten Stories studieren, bevor sie sich hier mit den alten Hasen amüsieren wollen...
Nun gut. Nachdem Schiel wie immer nicht locker lässt und sowieso schon alles mitschreibt, was ich sage, kann ich genausogut irgendetwas daherfaseln.
Einer der ganz grossen Vorteile, wenn man einen unterbezahlten, zeitlich befristeten Job an der Uni hat (abgesehen von der tagtäglichen Freude mit der Verwaltung!) ist die Tatsache, dass man praktisch nur von hochinteressanten Kollegen umgeben ist. In USA nennt man solche Leute vorsichtig 'characters'; hier zu Hause reicht die Bandbreite von 'Genie' bis 'total hypergeil abgewedelt'. Frau Bezelmann, Marianne und einige andere Kollegen kennt ihr ja bereits zur Genüge. Heute will ich euch mal über die versteckten Kleinodien erzählen, die im Verborgenen leuchten wie ein radioaktives Zifferblatt in einer Telefonzelle um 4 Uhr morgens in Wuppertal, in der der Strom ausgefallen ist.
(Warnung: die folgende Episode ist mit den abgefahrendsten Allegorien vollgestopft, die man sich vorstellen kann! Ich hoffe, damit die Anzahl der Abonnenten wieder auf ein vernünftiges Mass zu drücken!)
Zum Beispiel komme ich wie üblich gegen Mittag ins Büro, und unsere Pförtnerin, Fräulein Schwengelreiter, lächelt mir freundlich zu. Das wäre an sich nicht so ungewöhnlich; sogar der BAfH bekommt ab und zu ein Lächeln - allerdings normalerweise nicht verkehrt herum. Fräulein Schwengelreiter ist nämlich begeisterte Yoga-Anhängerin und ihre liebste Übung ist der Kopfstand auf den Pförtnerstuhl - ohne Netz und Armlehnen. Manchmal hängt sie sich auch mit den Fersen an den Rohren der Klimaanlage auf, um 'die Wirbelsäule zu dehnen'. Dann schaut sie mit ihren modisch-schwarzen Trauerklamotten aus wie eine riesige, gut gelaunte Fledermaus, die in Irkutzk zu lange in einem ungefegten Schornstein in Untermiete gehaust hat (da war wieder eine!).
Frau Katapopoulou, die griechische Kassiererin in der Cafeteria, ist auch ein besonderer Fall. Um die Abfertigung der langen Studentenschlangen an der Kasse zu beschleunigen, hat sie sich angewöhnt, bereits alles im voraus einzutippen, was sie von der Kasse aus sehen kann. Mit einem gellenden Zuruf "Sechsfünfundzwanzig und zwei Pfandmarken!" wird man über zehn Köpfe hinweg über die zu berappende Summe informiert, während der Kaffee noch in die Tasse plätschert.
Irgendwann beschloss Frau Katapopoulou ihr System noch weiter zu verbessern, indem sie ihre angeborenen hellseherischen Fähigkeiten aktivierte. Ein Blick in das Gesicht eines Studenten - und Frau Katapopoulou weiss bereits, was er kaufen wird! Leider funktioniert das System nicht ganz einwandfrei, was zur Folge hat, dass jeder ganz schnell seine Einkäufe im Kopf nachrechnen muss, wie ein wildgewordener Pentium Pro, dem man gedroht hat, mit Windoofs zu booten, wenn nicht ganz schnell die nächste Finite-Elemente-Simulation zu Ende bringt (da war schon wieder eine!) . Die Abfertigung wird dadurch zwar nicht schneller, aber immerhin trainiert Frau Katapopoulou auf diese Weise die kopfrechnerischen Fähigkeiten der Studenten...
Aber unser Glanzstück ist und bleibt die Hilfsbibliothekarin Ramona, deren eigentliche Aufgabe es wäre, die Bücher abzustempeln und allgemeine Auskünfte zu erteilen. Ramona studiert Kommunikationswissenschaften - seit 18 Semestern - mit Nebenfach Philosophie. Ausserdem ist sie seit neuestem praktizierende Agnostikerin. Eine Begegnung mit Ramona läuft ungefähr so ab:
Ich: "Ich suche das Buch 'Tausend Tips für Daten-Terroristen' von B.E. Zelbub. Wo finde ich das?"
Ramona: "Ham' wa nich'."
Ich: "Aber es steht im Hauptkatalog, und hier habe ich sogar die Signatur..."
Ramona hebt den Blick von ihrem Spencer, in dem sie angeregt gelesen hat, und fixiert mich kritisch wie ein kurzsichtiges südindisches Spitzmaulnashorn, das zum ersten Mal einen ostfriesischen Touristen mit gelben Turnschuhen erblickt (<- !!!):
"So! 'ne Signatur ham' Sie... Woher wissen Sie denn, dass es die richtige ist?"
Ich: "Ich habe sie aus dem Hauptkatalog..."
Ramona: "Woher wissen Sie denn, ob der Hauptkatalog überhaupt existiert?"
Ich: "Weil ich gerade noch darin herumgesucht habe!"
Ramona: "Und? Was beweist das?"
Ich: "Ich habe ihn gesehen und sogar die Schubladen herausgezogen..."
Ramona: "Trauen Sie immer bedingungslos dem, was Sie von Ihren angeblichen Sinnesorganen geliefert bekommen?"
Ich: "Ich traue ihnen zumindest soweit, dass da hinten um die Ecke der Hauptkatalog steht..."
Ramona: "Können Sie ihn immer noch sehen und berühren?"
Ich: "Von hier aus natürlich nicht..."
Ramona: "Woher nehmen Sie dann die Gewissheit, dass da hinter der Ecke nicht einfach das grosse Nichts anfängt? Vielleicht bin ja ich und diese ganze Bibliothek hier nur ein Blendwerk, das ihr Gehirn Ihnen vorspiegelt. Wenn Sie also niemals sicher sein können, dass die Bibliothek existiert, was hat es dann für einen Sinn nach einem Buch zu fragen, dessen Existenz zumindest sehr fraglich ist?"
Ich versuche mich Ramonas Taktik anzupassen:
"Selbst wenn die Existenz des Buches fraglich ist, sind dennoch die nicht-existenten Inhalte dieses imaginären Buches für mich nützlich. Oder vielmehr scheint es so zu sein, und deshalb habe ich zumindest einen subjektiven Nutzen daraus gezogen. Folglich lohnt es sich für mich, auch ein existenz-fragliches Buch zu lesen."
Ramona lehnt sich zurück und überlegt einen Augenblick, ob das Argument zieht. Dann sagt sie:
"In dem Moment, wo Ihnen klar wird, dass die Existenz des Buches nicht gesichert ist, dürften Sie eigentlich den Inhalten nicht mehr trauen. Alles andere wäre ethisch nicht tragbar. Folglich sollten Sie das Buch besser gar nicht lesen. Dann sind Sie auf der sicheren Seite..."
"Na gut", versuche ich es nochmal, "nehmen wir mal an, dass wir uns beide einig sind, dass das Buch möglicherweise nicht existiert, ok?"
"Möglicherweise!" nickt Ramona.
"Dann", fahre ich fort, "kann es Ihnen doch völlig egal sein, ob ich das Ding lese oder nicht. Das heisst, selbst wenn in dem Buch etwas drinsteht, das wegen der möglichen Nicht-Existenz von un-ethischer Natur ist, kann das doch kein Problem für mich oder für Sie sein, weil ja das Buch möglicherweise sowieso nicht da ist."
"Aber vielleicht ja doch!"
"Ja, aber dann ist es ja automatisch nicht mehr un-ethisch!" schliesse triumphierend.
Ramona muss knurrend zugeben, dass dies so sei, und rückt endlich mit der Information heraus, wo das verdammte Ding aufbewahrt ist.
Später stelle ich fest, dass es unter der Rubrik 'Forensische Medizin' eingeordnet war.
© Copyright Florian Schiel 1998
nothing to tell
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