Frau Bezelmann steht im Gang und strahlt mir entgegen - ein Anblick, der jeden mit einem schwächerem Nervenkostüm in die Flucht schlagen würde. Sie hat mir zur Begrüssung sogar einen besonders stacheligen Kaktus mit Lichterkette (es ist ja Weihnachten!) und eine riesige Packung Pralinen besorgt. Später stelle ich fest, dass die meisten Pralinen mit Senf gefüllt sind. Ein wirklich warmer Empfang! Sogar Marianne ist da und freut sich krampfhaft. Und unser abergläubischer Hausmeister macht heimlich hinter meinem Rücken Zeichen gegen den bösen Blick...
Aber wirklich freuen tun sich natürlich die Studenten. Trotz Studentenstreiks sind sie alle vollzählig in der Übung zum Grundkurs erschienen, die ich sofort nach meiner Ankunft vom Kollegen O. übernommen habe. Mein guter Ruf ist mir also vorausgeeilt (oder war er noch immer vorhanden?).

Als allererstes erkläre ich den versammelten Ingenieursanwärtern, dass ich meine Erfahrungen in Übersee für sie (also die Studenten) nutzbringend anzuwenden gedenke:
"Nach amerikanischen Vorbild werde ich also von nun an Fragen zur Übung nur noch schriftlich beantworten. Alle Fragen, die Sie haben, müssen bis zum Ende der Veranstaltung gesammelt und mit genauer Angabe des Idioten... ich meine, des Fragenden per Email an folgende Adresse geschickt werden..."
Ich kritzele eine nicht-existente Email-Adresse möglichst unleserlich an die Tafel.
"... ausserdem wird die Klausur ab sofort ein Multiple-Choice-Test sein, der von einem Computer automatisch ausgewertet werden kann..."
Ein paar ganz Ahnungslose freuen sich an dieser Stelle auch noch! Dabei schweben vor meinem unermüdlich-kreativen inneren Auge bereits Prüfungsfragen wie:

Operator TRUE ist auf FALSE gesetzt, und Operator FALSE auf TRUE.
Was ergibt die Formel (TRUE && FALSE) && (FALSE || TRUE) && FALSE || (TRUE || FALSE) ?

a) 42
b) MAYBE
c) Who cares?


"... und natürlich werde ich im Unterricht keine Tafel oder Overhead-Folien mehr verwenden. Der gesamte Stoff wird statt dessen in komprimierter Form mit einem Beamer auf die Leinwand geworfen. Das hat den unschätzbaren Vorteil, dass ich noch schneller hin- und her-scrollen kann, als das mit Folien bisher möglich war. Eine gute Übung für Sie, damit Sie nicht vorzeitig geistig einrosten. Ausserdem kann ich so die ersten 20 Minuten jeder Übung mit dem Einrichten der Technik vergeuden und den Stoff dann mit doppelter Geschwindigkeit durchnehmen.
Auf ein schriftliches Skriptum wie in der Steinzeit werde ich natürlich verzichten. Begleitende Hypertext-Dokumente finden Sie nur noch im Internet - sofern Sie zufällig auf die Adresse stossen sollten (sie ist nämlich nirgends gelinkt; das macht das Studium gleich viel spannender!). Falls Sie doch irgendwie drauf kommen, werden Sie feststellen, dass es mit gigantischen Graphiken und minutenlangen HiFi Sound-Files gespickt ist, und dass Sie keine reelle Chance haben, das Ding mit Bandbreiten kleiner 10 MegaBit 'runterzuladen..."

Inzwischen haben sogar die Erstsemester gemerkt, wo sie hier gelandet sind:
In der 'Bastard Lecture from Hell'!

Einige durch die Studentenstreiks ermutigte Kommilitonen versuchen zu protestieren und verlangen eine Diskussion über meine neuen Unterrichtsmethoden. Ich ersticke jegliche Insubordination im Keim, indem ich mit beiläufiger Stimme ankündige, dass schon nächste Woche, einen Tag vor Heilig Abend, eine Probeklausur über den bisherigen Stoff abgehalten werde.
Danach entlasse ich die Bande und schlendere links und rechts in die Büros grüssend zu meinem alten Arbeitsplatz. Offensichtlich waren einige Kollegen nicht auf meinen Anblick vorbereitet. Kollege Rinzling verschluckt sich an seinem täglichen Sahnetörtchen, als ich den Kopf zur Tür hereinstrecke und ihm freundlich einen guten Morgen wünsche. Er bekommt einen Hustenanfall, der sich gewaschen hat, und läuft ganz lila im Gesicht an. Dabei zeigt er mit dem zitternden Finger in meine Richtung und keucht:
"Nnnn...hirchhh!... nnnnnn... hiiiirrrrchhh!... nnnnnn..."
Eine hervorragende Gelegenheit, mein in den USA erworbenes Wissen anzuwenden: die sogenannte 'Heimlich Method'! (Sprich 'Heymlick') Ich greife Rinzling von hinten unter die Arme und ziehe mit der rechten Hand den linken Unterarm ruckartig nach hinten. Nach der Theorie von Heimlich sollte dadurch der Lungendruck so sprunghaft ansteigen, dass etwaige fehlgeleitete Stücke Sahnetörtchen aus der Luftröhre gepustet werden.
Vielleicht bin ich durch das Fitnesstraining in Kalifornien zu kräftig geworden, oder ich habe den Trick vom guten Herrn Heimlich noch nicht ganz kapiert. Jedenfalls fliegt kein Sahnetörtchen aus Rinzlings aufgesperrten Schlund, vielmehr schiesst sein falsches Gebiss quer durch den Raum und beisst sich in Mariannes haarspray-gesteifte Stirnfranse fest, die gerade neugierig um die Ecke schaut (Marianne, nicht die Stirnfranse!).
Marianne bekommt einen hysterischen Schreikrampf, der den Rest der Belegschaft auf den Plan ruft, und den Frau Bezelmann schliesslich nur mit ein paar schallenden Ohrfeigen zum Abbruch bringen kann. Rinzling bekommt endlich wieder röchelnd Luft in die Teerlungen, wohingegen seine blutunterlaufenen Augen mich immer noch so fassungslos anstarren, als wäre ich der Geist von Hamlets Vater.
Ganz zum Schluss erscheint der Chef in der Türe und erkundigt sich nach der Ursache für den Aufruhr. Bevor noch irgendjemand umständliche Erklärungen abgeben kann, fällt sein Blick auf mich, und er bemerkt lediglich:
"Oh... äh... Leisch... hrrmm... ach so!"


© Copyright Florian Schiel 1998

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